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Erziehungskomplex - ein Text                             

 

Erziehung, Bildung - eindeutsches Konzept -, Wissen und Wissenschaft ergeben einen Komplex, der nichtlosgelöst gedacht und beschrieben werden kann von wirtschaftlichen,technologischen und sozio-politischen Entwicklungen. In diesem Text versucheich, taschenlampenartig, mit Streiflicht einige mir wichtig erscheinendeTransformationen dieses Bereichs anzuleuchten. Das Hauptaugenmerk liegt auf deruniversitären Ausbildung, weil dieser Bereich Veränderungen des gesamtenpädagogischen Feldes beeinflussen, mitverhandeln und mitbestimmen kann.

 

I.Erziehung - ein Diskurs gesellschaftlicher Reproduktion

 

Die Art wie Wissensproduktion undWissensvermittlung geschaffen, organisiert, finanziert und sichergestellt wird,ist wesentlich für das Überleben einer Gesellschaft. Diese bildetsich in jenem Maße, in dem sie ihre Reproduktion und ihre Legitimationsteuert, kontrolliert, verteidigt und garantiert. Diese Aufgabe wird vor allemdurch ihre pädagogischen Institutionen und ihre kulturellen Einrichtungensichergestellt, die als gesellschaftliche Qualitäts- und Krisenindikatorenangesehen werden können.

 

Pädagogische und kulturelleApparate reproduzieren jedoch nicht nur Gesellschaft, sondern legitimieren undrechtfertigen ihre Existenz, verwischen den arbiträren, historischen undwandelbaren Charakter ihrer Formation. Antagonismen und Kämpfe zwischenden diversen Interessen und Ideologien innerhalb jeder und zwischen dendiversen Gesellschaften manifestieren sich auch innerhalb derpädagogischen und kulturellen Institutionen. Erziehung, Ausbildung undKultur sind somit direkt an Autorität und Politik gebunden, wenn auch dasAbhängigkeitsverhältnis kein mechanisches zu sein braucht.

 

Angriffe auf pädagogischeund kulturelle Institutionen, die von Schließung, Zensur, direkter undindirekter Kontrolle bis zum finanziellen Austrocknen reichen, könnendeshalb eindeutig als Zeichen für drastische Verschiebungen auf derpolitischen-ökonomischen Ebene verstanden werden. Kulturelle Gebilde sindsehr schwierig zu erzeugen, jedoch sehr einfach zu zerstören, wasbesonders auch Österreich im 20. Jahrhundert erfahren mußte.Umgekehrt verlangen gesellschaftliche Verschiebungen auch pädagogische undkulturelle Veränderungen, die meistens von einer konservativen Dominanznicht akzeptiert werden will und so ihre Legitimation und Macht entgültigunterminiert. Dem Interesse an erziehungs- und bildungspolitischen Komplexenist somit ein emminent gesellschaftspolitisches Interesse eingeschrieben.

 

Eine Relektüre von PierreBourdieus und Jean-Claude Passerons Buch "La reproduction,éléments  pour unethéorie du système d'enseignement"1, das von"symbolischer Gewalt", "symbolischem Kapital" und dem"kulturellen Arbiträren" jeder an pädagogischeAutorität gebundenen pädagogischen Aktivität spricht, frappiertnicht nur wegen dem revoltierenden Impuls dieser institutionsstürmendenSoziologie der sechziger Jahre, sondern auch wegen der Angemessenheit seinerAnalyse, die auch dann noch funktioniert, wenn die noch vorhandenen mehr oderweniger liberalen Ausbildungsstätten und kulturellen Institutionen Gefahrlaufen, nicht mehr von der Straße, sondern von innen und oben herdemontiert, irrelevant, obsolet und/oder geschlossen zu werden. EineRelektüre von Althussers Reproduktionstheorie und seine"ideologischen Staatsapparate" ist komplizierter, weil der Staat nunseine Omnipotenz abtritt an transnationales Kapital und dessen Institutionen.

 

I. Bildung - ein Meister aus Deutschland

 

Liest man Kant und den deutschenIdealismus etwas gegen den philosophiegeschichtlichen Strich, so kann man inihnen ein Programm sehen, um die kulturelle, künstlerische undwissenschaftliche Sphäre zu redefinieren und zu reorganisieren. DasVerhältnis zum Staat, der Wirtschaft und Industrie ist hier wesentlich einproblematisches, das es als konfliktreiches und produktives zu bestimmen und zuverhandeln gilt. Der Staat wird als totalisierende, zensurierende,einschränkende, autoritäre, quasi-logische Instanz mitkomplizenhafter Identifikation, Notwendigkeit und Ablehung zugleich entworfen.Die daraus resultierenden Konflikte und Multivalenzen zwischen den jeweiligenFunktions- und Lebenssphären mit ihren Institutionen und Industriendefinieren nicht nur Modernität in ihren Anfängen, sondernprägen wesentlich auch das heutige ökonomische, wissenschaftliche,sozial-politische Zeitverständnis.

 

Es ist erstaunlich, wie eindeutigKant in seiner vorerst zensurierten Schrift, "Der Streit derFakultäten"2 von 1798 vom Einfluß Staat, Regierung, Industrieund Wirtschaft auf Wissenschaft und ihre Organisation spricht. Die Aufteilungder Wissenschaften erfolgt "fabrikenmäßig" und durch"die Regierung" ohne Hinzuziehung des "Gelehrtenstands" in"drei obere Fakultäten", die theologische, juridische,medizinische, und in drei "untere" philosophische Fakultäten.Kant wird nicht müde, hinzuweisen, daß die drei oberenFakultäten vom Staat kontrolliert und sanktioniert werden, weil "dieRegierung" durch sie "sich den stärksten und daurendstenEinfluß aufs Volk verschafft"3 Er spricht von "Instrumenten der Regierung", die er alsGeistliche, Justizbeamten und Ärzte identifiziert, die "sich unmittelbarans Volk wenden, welches aus Idioten besteht"4, was die Bevormundung, wennnicht geistige Endmündigung des Volks durch Kant nach untenverlängert.

 

Unabhängig von den Befehlender Regierung sind die "unteren Fakultäten", diephilosophischen, einzig der Wahrheit und dem wissenschaftlichen Interesseverpflichtet. In ihnen darf "Vernunft" öffentlich Wahrheitsprechen: "Es muß ... noch eine Fakultät geben, die, inAnsehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, keine Befehlezu geben, aber doch alle zu beurteilen die Freiheit haben, die mit demwissenschaftlichen Interesse, d. i. mit dem der Wahrheit, zu tun hat, wo dieVernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein muß: weil ohne einesolche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommenwürde, die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist und keine Befehle etwasfür wahr zu halten (kein crede, sondern nur ein freies credo)annimmt." 5 Wie hier impliziert, wird der Philosophie eine regulative,kritische Funktion zugedacht, die nicht nur die Wissenschaften vor dem Zugriffdes Staates schützen sollte, sondern auch auf den Staat und seineInstrumente diskursiv, via des Mediums Vernunft Einfluß nehmen kann.Vernunf wird als Bollwerk gegen den Staat entworfen. Vernunftkritik ist deshalbpotentiell auch als Staatskritik angelegt.

 

Wilhelm von Humbodt's "Ideenzu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" 7stammt aus den 90iger Jahren des 18. Jahrhunderts und bewegt sich gleichfallsentlang dieser Argumentationlinie, den autoritären und als willkürlichempfundenen preußischen Staat in seine Grenzen zu verweisen. Dabei spieltauch die "Öffentliche Erziehung" eine Rolle. Humboldt sieht indieser einerseits die notwendige Ausbildung des Menschen zum(Staats)Bürger, andererseits aber mißt er dieser Ausbildung aucheine Autonomie und Kritikfähigkeit zu, derzufolge der Staat und seineVerfassung selbst Modifikationen erfahren sollten: "Ganz und gar aberhört es auf, heilsam zu sein, wenn der Mensch dem Bürger geopfertwird. ...  Der so gebildete Menschmüßte dann in den Staat treten und die Verfassung des Staats sichgleichsam an ihm prüfen...8. An anderer Stelle heißt es genausoeindeutig: "Öffentliche Erziehung scheint mir daher ganzaußerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeithalten muß"9.

 

Wie stark der preußischeStaat aber tatsächlich sich um seine wissenschaftlichen Anstaltengekümmert hat, kann nicht nur an der Zensurgeschichte, der Bestellung derProfessoren, der Einteilung der Wissenschaften, ihrer exklusiven Geschichte undden expliziten und impliziten Identifikationen mit dem Staat und seiner Herrschaftsstrukturabgelesen werden, sondern vor allem auch im diskursiven Kampf umFreiräume, Laizismus und Autonomie. Aber selbst dort, wo wie bei Schellingdie Wissenschaft zum "Religionsersatz" wird und der "universelleGeist" und das "absolute Wissen" angerufen werden, wird nochbeklagt, daß die Akademien "Instrumente des Staats sind, die dassein müssen, wozu dieser sie bestimmt". Schelling fährt zaghaftkritisch fort und antizipiert, was die Wissenschaften heute bedroht: "DerStaat wäre unstreitig befugt, die Akademien ganz aufzuheben oder inIndustrie- und andere Schulen von ähnlichen Zwecken umzuwandeln; aber erkann nicht das erste beabsichtigen, ohne zugleich auch das Leben der Ideen undfreieste wissenschaftliche Bewegung zu wollen, ...."10

 

Ambivalenz, Identifikations- undKollaborationsbereitschaft der Philosophie und der Universität mit deromnipotenten Staatsautorität zeigen jene widersprüchlichen Aussagen,die sich innerhalb von wenigen Seiten auch bei Kant, Fichte, Schelling,Humboldt finden lassen. Da "die Beschaffenheit der Universitäten zueng mit dem unmittelbaren Interesse des Staates verbunden" sind, mußauch die Bestellung der Universitätslehrer"ausschließlich" dem Staat vorbehalten bleiben"12. DieseAmbivalenz zwischen Identifikation und Ablehnung gegenüber dem Staatfindet ihre Erklärung in der politischen Geschichte: die Ausbildung zurdeutschen nationalstaatlichen Einheit - eine schwere Geburt. Im Anschlußan die Niederlage durch Napoleon und die Auflösung des Heiligen ReichsDeutscher Nation wird versucht, mit dem Begriff der deutschen Nation, eineideologische Identität zu schaffen. Am Begriff der Nation läßtsich Einheit feiern und zelibrieren, bevor sie politische Realität wurde. 

 

Das wichtigste Instrument imProzeß der nationalen Einheitsbildung wird ein nationalesErziehungprogramm, das sich auf Volksbildung, Geschichtsphilosophie undSprachforschung stützt. Deutsche Sprache, deutsche Geschichte und derinstrumentalisierte Begriff "Kulturnation" bilden das Rückgratder nationalen Konstruktion. Humboldt und insbesonders Fichte sprechen demDeutschen nicht nur nationsbildende Funktion zu, sondern sehen in derNationalsprache eine "innere Grenze"13, der ein chauvinistischer,xenophobischer und rassistischer Diskurs sich anhängt.14. Fichte und auchHumboldt definieren die nationale Einheit nicht in einem territorialen,ökologischen, sondern in einem auf die Sprache bezogenen,anthropologischen Sinn, um so einen sprachlichen Nationalismus zu kreieren."Die Sprache aber ist ein Werk der Nation, und der Vorzeit..."16. Einauf Purifikation abzielendes Vokabular wird entworfen, das sich späterauch für andere als für "idealistische" Zwecke gebrauchenläßt. Kategorien und Begriffe wie "das Universelle","die Weltliteratur", der "Weltfrieden" erfüllen dieFunktion, die anderswo territorial fixierte Identifikationen leisten. Das aufdas Universale, das Absolute und Globale ausgreifende Identifikationsdenkenwird in den kommenden Dekaden von einer kolonialistischen Politik ebenfallswieder in Realität umgesetzt, die später noch katastrophaler sichauswirken wird.

 

Das Bildungsideal, das zurAusbildung der deutschen Nation wichtigstes Werkzeug, sieht Fichte imgriechischen Vorbild der Einheit zwischen Erziehung und Bürgertum alsBildungsbürgertum konkretisiert. "Bildung" wird als Konzeptgesehen, das eine Antwort auf die empirische Unmöglichkeit, dieaufgesplitterten Wissenschaften zu überschauen, darstellt. Ebensobeinhaltet sie eine moralische und ethische Dimension, die auf die"Orientierung des ganzen Menschseins" gerichtet ist. Bildung stelltwesentlich ein Ideal vor, das als Freiheit, Universalität und Transzendenzgedacht wird und der eine ideale Weltordnung zugeschrieben wird. Die anDeutscher Idealismus, Bildung und Volksbildung geknüpfte Ausbildung derdeutschen Nation, ist somit eine politisch, geographisch und historisch nichteinholbare, transzendente Idee, die in Berlin Staatsmänner inTausendjährige Reiche umsetzen wollten. Universitäts- und Museumsbauten,nationale Literatur und nationale Geisteshelden mit ihren Denkmälern,Bildungsromane und pittoresque Abbildungen von Studierenden sind ebensopolitischer Ausdruck der neuen Nation wie das Auftauchen von Sportsvereinen,Pfadfindern und der Kummer um die Volksgesundheit und Volksreinheit. WennFoucault in Frankreich einer architektonischen Archeologie bedarf, umDisziplinierungs- und Machtregime aufzuspüren, so muß für diedeutschen Lande ein analoges Interesse sich dem Erziehungs- und Bildungskomplexannehmen, der sich institutionell sehr stark formiert hat.

 

II. Education- politisch-ökonomische Aspekte einer Investition

 

Dem deutschen Erziehungsmodellsoviel Platz einzuräumen, entspricht keiner geographischen und nochweniger einer kulturzentristischen Präferenz, sondern hat andereGründe. Die enorme Wirkungsgeschichte dieses hier nur kurz gestreiftenErziehungs- und Wissenschaftsmodells in Europa, spiegelt sich selbst inentgegengesetzen amerikanischen Modellen wider. Der Hauptgrund aber liegt inder erneuten Brisanz dieser Texte und Modelle, insofern Universitäten wienationale Bildungs- und Kultursysteme auch in Europa massivenVeränderungen und Kritiken in der Folge von Globalisierung,Multikulturalismus und Technologisierung ausgesetzt sind.

 

Globalisierung ist nicht nur einneues Stichwort, das auf Spätkapitalismus,  postindustrielle Kommunikationsgesellschaft sich reimenläßt, sondern eine ökonomische, soziale, politische und technologischeRealität. Eine hochentwickelte Kommunikations- und Transporttechnologiehat in den letzten Dekaden neue Paradigmen der Organisation vonAktivitäten geschaffen, die eine beschleunigte weltweite Vernetzung vonWirtschaft, Handel, Produktion, Information, Konsumption und ihren Agentenbewirkt. Nationale Ökonomien werden in diesem Prozeß immer mehrdurch transnationale Unternehmungen - transnational corporations (TNCs) - miteinem undurchsichtigen Fluß von Kapital, Produktion, Arbeit undInformation abgelöst. Verlagerungen von ganzen Produktionen aus dentraditionellen Industriestaaten, Arbeitslosigkeit, das katastrophaleAuseinanderklaffen von reichen und armen Welten, ökonomischeMassenmigration, Rassismus, Fremdenhaß, Fundamentalismen,Neo-Nationalismen, Verlust konvivialer Identifikationsangebote,Rechtsextremismus, Demokratieverlust, das Verschwinden des Politischen, dasUnterlaufen staatlicher Apparte durch TNC-power, verstärkte weltweiteAusbeutung der Kinder- und Frauenarbeit, verknappte Resourcen, eine immermassiver beschädigte Umwelt, organisierte Krimminalität imAusmaß von nationalökonomischer Dimension, Menschenhandel undSextourismus sind nur einige Symptome, die den technolgogischen Optimismuseines Bill Gates zum Thema Globalisierung und new world order überschatten und auch Hegels homogeneuniverselle Staatsidee Lügen straft.

 

Ein globaler Markt entsteht, indem Information, Wissen und Innovationen zu den wichtigsten Faktorenzählen. Erziehung, Wissen, Ausbildung, Information und Know-How gewinnensomit eine noch wichtigere Bedeutung als dies schon in einer Gesellschaftsordnungder Fall war, in der mechanische und industrielle Prozesse im Verbund mitnationalen Identifikationen das Modell für Erziehung und Bildungausmachten. Eine internationalisierte coporate culture tendiert dazu, das Organisationmodell für allegesellschaftlichen Bereiche abzugeben und so auch den Erziehungskomplexfür sich neu zu definieren.

 

Die Universitäten werdenauch in Europa die in ihrer Grundkonzeption seit Humboldt und Kant geforderteklare Abgrenzung zu Fachhochschulen verlieren. Dabei geht es nicht um dasneutralisieren von elitären Ansprüchen, sondern um dieInstrumentalisierung der Hochschulen zu reinen Ausbildungsstätten, was dieGrundsätze der philosophisch-reflexiven, kritisch-autonomen Aufgabendieser unterminiert. Privatisierungsprozesse schließen sich diesenTendenzen an, die entweder radikal oder teilweise und indirekt durch dievermehrte Kooperation - "Partnerschaften" - mit dem CorporateSektor sich vollziehen. ÜberPrivatisierungsprozesse lassen sich Universitäten sehr gefügig,exklusiv, leistungsfähig und profitabel machen.

 

Es steht diesen Institutionendann nichts mehr im Wege, Universitäten der Exzellenz17 zu werden, diemiteinander offen um die viel Geld zahlenden Studenten ringen. In den USA sindKonkurrenzverhältnisse zwischen den Universitäten, die als reineWirtschaftsbetriebe mit starker Diversifikation geführt werden, zur Normgeworden. Dementsprechend müssen sich Professoren auf ihreLeistungsfähigkeit - z. B. ihre Attraktion auf Studenten, um die auf allenEbenen geworben werden muß - prüfen, quantifizieren, besolden undkorrigieren lassen. Investieren aber müssen nicht nur Studenten, denen wiebeim Kauf von Flugtickets unterschiedliche, individualisierte finanzielleBedingungen angeboten werden. Es investieren Universitäten auch selbst, ummit an Sportstars erinnernden finanziellen Offerten die als wichtig undexzellent gehaltenen attraktiven Professor/innen an sich binden zu können.Bedauernswert dabei ist nicht der Verlust eines Bildungauftrags, sondern dasUnterwerfen von Wissens- und Kritikvermittlung unter marktwirtschaftlichesKalkulieren, das systemkritisches Denken und Agieren schneller eliminiert alsdie noch vorhandenen klassisch europäischen Universitäten, denenAutonomie und Kritik zumindest konstitutionell garantiert wird.

 

Mit diesen Überlegungen willnicht gesagt sein, daß private Universitäten keine Kritikzuließen. Derzeit produzieren die privaten amerikanischenEliteuniversitäten quantitativ und qualitativ mehr und relevantere Kritikals ihre europäischen Äquivalente. Sie verfügen über weitbessere Mittel und flexiblere Strukturen, Kapazitäten aus aller Welteinzuladen und abzuwerben. Kritik wird dabei aber auch zu einer relativ gutverkaufbaren universitären Ware, die sich in unzähligen, attraktivenreadern und Antologien vermarkten läßt. Sie wird in denUniversitäten der Exzellenz nicht nur einem verantwortlichen kritischenSelbstverständnis im Konflikt abgewonnen, sondern mutiert mitunter zumProdukt von Nachfrage-Angebot-Verhältnissen, was Inhalte kompromitiert undalternatives Denken abseits von Markt- und Nachfragezwängen erschwert.Denken läuft so Gefahr, zur Jagd nach Marktlücken zu werden, das sichden jeweiligen Trends anschließen will. Auch darin gleicht sich dieakademische Industrie immer mehr einem Spektakelkulturverständnis an18.Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die jüngsten Entwicklungen derUniversitätsverlage (university press), die in den USA die wichtigstenHerausgeber für akademische und kritische Literatur ausmachen. DieseVerlage haben sich nun so kommerzialisiert, daß sie das unrentablePublizieren von rein akademischen Texten - die einzige Möglichkeit vonAkademikern, sinnvoll zu kommunizieren - auf ein Minimum reduziert haben, weilVerkaufszahlen zum wahren Kriterium für Publikationen avanciert sind.Denken und Kritik mögen erlaubt sein, wenn sie sich als Ware verkaufen.

 

Ihren Bildungs- undKritikaufträgen entzogen, in ihren administrativen Strukturenflexibilisiert und technologisch vernetzt, lassen sich die neuenUniversitäten auch bezüglich ihrer Inhalte, Verfahrensweisen undMedien leichter "globalisieren". Zur internationalen lingua franca entwickelt sich verstärkt Englisch, das auch inden nicht-anglophonen Ländern zur Universitätssprache avanciert, wasdort lokale kulturelle Identitäten und kollektives Erinnernbeeinträchtigt, wenn nicht verarmt und verkrüppelt. Nichtunterschätzen darf man auch die technologischen Auswirkungen auf dieUniversitäten, die zu abrufbaren think tanks und ihr Wissen zu bitgerechtquantifizierbaren Informationen werden. Eine globalisierte Netzgesellschaft alsInformationsgesellschaft kann deshalb nicht ohne ihr angepaßteUniversitäten auskommen. Wissen stellt ein Kapital dar20, das neben derExklusionsfunktion sich parallel mit der Reichtums-Armutsschere multipliziert.Es ist zur Navigation im transnationalen Kapitalismus Voraussetzung. Aber auchzum gesellschaftlich sinnvollen Überleben.

 

III. MultikulturelleErziehung - Ein Curriculum gegen kulturelle Arroganz

 

Interessengeleitete Unterschiedesind verhandelbar, kulturelle und ethnische Unterschiede sind es nicht.Kulturelle Identitäten durchgreifen Persönlichkeitsstrukturen undsind Ergebnisse von langen Sozialisierungsprozessen, die existentiel undwertbestimmend erfahren werden. Wertkonflikte sind deshalb mehr als nurVerteilungskonflikte. Es geht hier um Wertungen, Konflikte und Rechte, beidenen Streite über Objekte, Gegenstände, Erwartungen undVerhaltensweisen oft tieferliegende kulturelle, religiöse oder ethnischeKluften verhüllen. In komplexen Gesellschaften, in denen die diversestenGruppen eng nebeneinander leben, sind im Zusammenhang von Erziehung undWissensvermittlung notwendigerweise Kultur und Wissen selbst Streitobjekte, dieneuverhandelt werden müssen, sobald sie eine Gruppe auf Ungunsten vonanderen Gruppen favorisieren und bevorteilen.

 

Was unterrichten? Wieunterrichten? Wen unterrichten? In welcher Sprache Unterrichten? In diesenFragen spiegeln sich offen wie versteckt jene Konflikte und kulturellenHegemonieansprüche wider, die die politische Streitlandschaft imallgemeinen charakterisiert. Ethnische, religiöse, sex- undgeschlechtspolitische, klassen-, weltanschauungs- und rassenspezifischeUnterschiede manifestieren sich schon diskriminierend im Klassenraum. DieseProbleme konfrontieren nun auch die nicht-mehr-homogenen west-europäischenGesellschaften, die bis dato in jeder Hinsicht reichlich schlecht gerüstetsind, adäquat zu reagieren. Deutsch-österreichische"Gastarbeiter"-Politik, schweizer "Saisonier"-Verwaltung,französische Assimilationsdiskurs und Schengener Grenzabkommen - um nur 4Beispiele zu nennen - reichen nicht mehr aus, komplexe multikulturelleGesellschaften sinnvoll, gleichwertig, arroganz- und diskriminationslos zusteuern.22 In den USA ist es um die Problemerfassung und -bewältigungbesser bestellt, was an einer New Yorker Kontroverse vorgestellt werden soll.

 

1989 wurde in New York eineKommission beauftragt, einen "Curriculum der Einbeziehung" (ACurriculum of Inclusion)23 als Erziehungskonzept für eine pluralistische,multikulturelle Gesellschaft zu erstellen, die der systematischen Favorisierungeurozentrischer Bildungsmodelle entgegensteuern sollte. EuropäischeKultur, so der Bericht, nähme den Vorsitz an einer Tafel ein, an derGäste anderer Kulturen bestenfalls aus Gutmütigkeit [throughbeneficience] geladen seien. Es geht dem Papier darum, Lehrpläne auf derBasis multikultureller Beiträge aller Aspekte der Gesellschaft zuerarbeiten, um so Kinder aus amerikanisch-indianischen,asiatisch-amerikanischen und afro-amerikanischen Familien eingrößeres Selbstwertgefühl [self-esteem] zu geben und denKindern aus europäischen Kulturen etwas von ihrer "arrogantenPerspektive" zu nehmen. Reaktionen blieben nicht aus. Ein "Kommitteevon Gelehrten zur Verteidigung von Geschichte" (Committee of Scholars inDefense of History) formierte sich. Ihre Argumente lauten, daß derUnterricht von Geschichte nur noch eine Form sozialer und psychologischerTherapie für das Selbstwertgefühl von Kindern ausMinoritätsgruppen sei und sich reduzierte auf eine Geschichte von"ethnischem Applaudieren" (ethnic cheerleading). Weiters wird demPapier "ethnischer Kult" ("cult of ethnicity"),"compulsory ethnicity" und "Seperatismus" vorgeworfen, dievon "ethnischen Militanten" ("militants of ethnicity")geführt würden24.

 

Die gut repräsentierteMaterialfülle und differenzierte Aufarbeitung europäischerKulturstränge läßt sehr leicht sich als neutral, objektiv und"kultiviert" mißverstehen und mißbrauchen. Traditionen andererkultureller Einflußbereiche werden eurozentristisch als"ethnisch", "exotisch" und "zweitrangig"betrachtet, was sich unmittelbar auf das Selbstverständnis derSchüler und Studenten auswirkt. Genauso verhält es sich mit dem zweitenVorwurf. Wiederum ist es die representative Übermacht und dieDefinitionsgewalt eurozentrischer Gruppen mit ihren Kolonialgeschichten, dieeigene ethnische Zugehörigkeit und sogenannte "weiße" Hautzu generalisieren und zum Maß aller Dinge zu nehmen, von dem alles andereabweicht. Bei systematischer Reduzierung und Diskriminierung aufgrund der z.B.ethnischen Zugehörigkeit ist es nicht verwunderlich, daß dieseAspekte eine zentrale Rolle im Leben von Minderheiten spielen. Dasselbe trifftzu, wenn es sich um Aspekte handelt, die das Geschlecht oder die sexuelleObjektwahl betreffen. Ebenfalls kaschiert jedes SeparatismusargumentAssimilierungsvorstellungen, marginale Gruppen hätten sich der dominantenKultur anzupassen, die nicht nur in den USA immer schwieriger zu definierenist.

 

Was die Schul- undHochschulspolitik angeht, so wird es immer offensichtlicher, daßmultikulturelle Erziehung überlebenswichtig wird, will man jeneKatastrophen verhindern, die an den Rändern Europas - Ex-Jugoslavien -immer wieder vor unseren Augen sich wiederholen. Zentral werden dabei folgendeAspekte und Fragen: Differenz und Anderssein - in jeder Hinsicht - darf nichtmehr negatif und abwertend verstanden, beurteilt und repräsentiert werden.Differenz ist kein Defizit, sondern eine Bereicherung und muß als solcheauch verständlich gemacht und gepflegt werden. Jede Integrationspolitikmuß sich wesentlich der Frage stellen, welche ethnischen undreligiösen Charakteristiken können vernünftigerweise akzeptiertoder abgelehnt werden (z. B. Beschneidung von Frauen, Sati usw.), um nichtgegen zentrale demokratische und humane Grundrechte zu verstoßen. Welchessind die Standards, mit denen eine nicht-rassistische, nicht-diskriminierendeErziehung gewährleistet werden kann? Welches sind die kulturellenVermittlungsinhalte, - z. B. literarische, aesthetische, historiographischeKanons - die keine der vertretenen Gruppen und Subgruppen vernachlässigen,diskriminieren und mißrepräsentieren? Wie sollte Wissen vermitteltwerden, wirken sich doch kulturelle, sprachliche und ökonomisch-sozialeUnterschiede sehr auf die Leistungsfähigkeit im Schulbetrieb aus, die dannwiederum sich in der gesellschaftlichen Positionierung niederschlägt? Wiegeht eine Schule mit dem Faktum um, daß z. B. 30 % der Schüler dieUnterrichtssprache nur ungenügend beherrscht und dementsprechendbenachteiligt ist? Diese Fragen sind nicht nur von pädagogischem, sondernauch von politischem, sozialem und kulturellem Interesse.

 

IV Cultural Studies - Nietzsches Wiedergeburt in Amerika aus dem Geist der Popmusik

 

Wie kaum ein anderer hatNietzsche die Bedingungen von kulturellen Wertbestimmungen begriffen. DieEinsichten in die Konstruiertheit und Machtabhängigkeit von Normen- undWertgebungen dürfte sicherlich eine Konsequenz seiner altphilologischen Studiengewesen sein, die als historische Disziplin involviert waren am ideologischenProzeß der nationalen und staatlichen Einheitskonstruktion Deutschlands.Dieser tragische und umstrittene Philosoph, der unter seinen Einsichten litt,die er mehrdeutig und problematisch formulierte, ist u. a. wegen der zentralenFrage um kulturelle Wertsetzungen in den USA zu einer wichtigen Referenzgeworden.

 

Die Infragestellungen von Kultur,nation und amerikanischesSelbstverständnis sind nicht unabhängig von einer Vielfalt vonProtestbewegungen, zu denen black liberation, Feminismus, Gay and Lesbian movements zählen, um nur einige zu nennen. DieseEntwicklungen waren begleitet von einer radikalen Kritik an den Prämisseneines als repressiv empfundenen ästhetischenModernismusverständnisses von Kultur und Kunst. Zuhörer und Betracherwurden wichtig und die Interdependenz von Hochkultur und Alltagsleben immerzwingender. Semiotischen Regimen einer werbeintensiven Konsumentenwelt miteiner Vielfalt von kulturellen Angeboten wurde nicht nur soziologische undideologiekritische Aufmerksamkeit geschenkt, sondern auch affirmative undkulturfähige Bedeutung beigemessen. Diskussionen um "highand low culture" sind nur einakademischer Ausdruck von Entwicklungen, die das traditionelle,bildungsbürgerliche Kultur- und Kunstverständnis auflösen, einProzeß, den die Kritische Theorie um Horkheimer, Habermas, Benjamin undandere schon seit den 30iger und 40iger Jahren dieses Jahrhunderts beschreiben.Popkultur (Popular culture)formierten sich immer massiver, wurden studiert und historisiert.

 

Eine der Kulturproduktion und-rezeption ähnliche Transformation ist auch bei jenen akademischen Studienzu beobachten, die sich seit den 80iger Jahren als cultural studies26 in den USA massiv formierten. Culturalstudies entwickelten sich aus einerbestimmten Rezeption u.a. der Frankfurter Schule, der Burmingham School, demfranzösischen Poststrukturalismus, des Dekonstruktivismus, derPsychoanayse, und des Neomarxismus. Sie dominieren heute vorwiegend neben den Kunstakademiendie Literatur- und Sprachinstitute der amerikanischen Universitäten. Durchdie sehr fruchtbare Rezeption und eine noch intensivere, sich politisierendeinterdisziplinäre Produktion von Theorie entstanden auch eigeneLehrstühle, die sich Spezialgebieten - Feminism, Gender Studies,Gay and Lesbian Studies, Post-Colonial Studies, African-American Studies, MediaStudies usw. - wittmen. Konflikte zwischenall diesen Studien und den traditionelleren Instituten werden oft sehr hartgeführt und mitunter als "cultural wars"27 überschrieben. Sicherlich versteckensich hinter solchen Bezeichnungen nicht nur ideologische und weltanschaulicheDifferenzen, sondern auch existentielle. In den sehr dynamischen,profitorientierten Universitäten müssen sich ganze Institute"verkaufen", deren Mitarbeiter permanent vor dem Absetzen bedrohtsind, bilden lebenslängliche Jobgarantien die Ausnahme. Autonomie, Kritik und Widerstand könneninnerhalb der (oft transnationalen) Wirtschaftsunternehmung Universitätauch ein finanzielles outerfahren, das von Trends und Studentenzulauf - eine der wichtigstenfinanziellen Resourcen der US-Unis - abhängt, hinter denen sich jedochimmer auch politische Motive verstecken.28

 

Cultural Studies setzen sich vorwiegend aus gegenhegemonischen, starkinterdisziplinären, kritischen Studien zusammen, die sich vor allem umdiverse  ethnische, sexuelle,gender- und klassenspezifische Minderheitsproblematiken, politischenAktivismus, Neomarxismus, Psychoanalyse, Postkolonialismus, Multikulturalismus,Technologiekritik, Globalisierung, Medien, Ökologie, Alltagskultur, Kitschund Pornographie kümmern und damit ihre universitären Karierenerarbeiten. Ihre Hauptakteure sind meistens politisch überzeugte,betroffene und engagierte Intellektuelle, die zumindest bis vor kurzem aufgrundihrer Herkunft oder Positionierung keine klassischen institutionellenLaufbahnen vorweisen konnten. Oft müssen sie sich durch ihre besonderesoziale, ethnische, gender/sex-politische oder ideologische Provinienz positionieren,um sich Autorität und Interesse zu verschaffen. Der Philosophiegeschichtewird der Rücken gekehrt. Die Haupttexte der traditonellen Philosophie- undLiteraturgeschichte werden auf "Logozentrismus","Essentialismus", "Eurozentrismus", "Sexismus"und "Totalisierung" hin produktiv neugelesen. Medien und jede Art vonvisueller, akustischer und audio-visueller Produktion werden studiert undanalysiert. Kritisch werden vor allem Repräsentationverhältnissebetrachtet und die Frage gestellt: "wer spricht aus welcher Position mitwelchem Eigeninteresse über wen". Insgesamt gilt die Reserche der"Rückseite" von Geschichte, ihrer vergessenen,übergangenen, mißrepräsentierten Aspekten, also all jenenRegimen, gegen die sich Modernität, Vernunft und Geschichte selbstkonstitutiert haben.

 

Interessiert aber ist man in den culturalstudies auch an der eigenen Praxis selbst,die als politische und "organische" - siehe Gramscis"organischer Intellektuelle" - reflektiert und kritisiert wird29.Jeder Zugriff auf die unterschiedlichen, zum Werkzeug gewordenen Theorien isterlaubt, erwünscht und kann weitergemischt werden mit textuellen undnicht-textuellen Fakten und Artifakten aus allen Lebensbereichen, was es oftschwer macht, derartige Produkte herkömmlichen Institutionen eindeutigzuzuorden.30 Theoretiker/innen arbeiten mitunter auch als Künstler/innen,Musiker/innen, DJ's, Kurator/innen, Universitätsprofessor/innen,Taxifahr/innen, bar men/women bis hin zu Sexarbeiter/innen und umgekehrt31. Nureine kleine Anzahl von Erfolgreichen werden zu Mitgliedern von freequent flierclubs, die neben dem universitären Theorietourismus auchaußeruniversitäre Verpflichtungen annehmen, wofür z. B. derKunstbetrieb Anlaß bietet. Nur wenige aber können sich damitwirklich ihr Brot verdienen. Auch wird es genügend Leute dieser studies geben, die irgendwie, irgendwo aufgrund ihrerPrivilegien ihr Auskommen erfolgreich finden und gegenüber diesenkritischen Studien zynisch sich äußern werden. Der Großteilder engagierten Produzent/innen, Student/innen oder Konsumenten dieser CulturalStudies sind und bleiben jedoch durch ihreAndersartigkeit gezeichnet, stigmatisiert und müssen ein oft unstabiles,diskriminiertes Leben führen, da gesellschaftliche Veränderungenlangsamer nur greifen als sich Texte schreiben und als Modeerscheinung lesenoder ablehnen lassen. Auch dürfen nicht die Umstände mancher Textevergessen werden, die im Gefängnis, Emmigration, Armut und Elendentstanden sind und auch heute noch in manchen Ursprungsländern Zensurerleiden.

 

Eine radikale interne Kritik wiesie schon die Kritische Theorie kennt, die in jeder Form von VernunftGewaltverhältnisse weiß, treibt mitunter auch die culturalstudies an den Rand ihrer Legitimation undihres für ihr institutionelles Bestehen notwendigesSelbstverständnis. Sprache und Diskursordnungen mit den ihnen zugeordnetenInstrumenten und Institutionen werden radikal angegriffen und als Machtregimeentlarvt. Sande Cohen z. B., der sich als "Ex-Historiker" bezeichnet,sieht im geschichtlichen Denken Wunschprojektionen, die sich aus sprachlichorganisierten Objektivitäten zusammensetzen und nicht mehr als eineKonfusion von Denken und Wünschen darstellen. Er spricht eineminstitutionslosen, nicht-akademischen, "kritischen Nihilismus" dasWort, der ohne intellektuelle Werte auskommt, in denen er nur universitäreSchemata und narzistische Interessen sieht, ohne auf ihre katastrophaleVorgeschichte im Nazi-Deutschland zu vergessen.32 (Tod durch Endlösung inDeutschland war ein vernünftig rational akademisch geschichtlichstudiertes Unternehmen). Nichtautoritäres, sich Definitionen entziehendes,"passierendes"(Deleuze), "unzeitgemäßes"(Nietzsche) Sprechen gegen den Wind und ihre Institutionen wird angestrebt.

 

Cultural Studies und Critical Theory sind auf direkte emanzipatorische Konsequenzen undprogressive Veränderung der politischen und kulturellen Landschaftbedacht, was nicht nur in den USA erreicht wird. Multikulturelle undemanzipatorische Bewegungen der verschiedensten Art - z. B. auch Aids bekämpfendeGruppen (Act Up) - sind theoretisch und ideologisch gestärkt, was auch zuReaktionen und oft reaktionären back lashes führen kann. Diskussionen um dieVerfassungsmäßigkeit von als Ghettoisierung kritisierten oder selbstempfundenen Minoritätsprogrammen und um die systematische Förderungund Einbeziehung von Minderheiten sind Beispiele. Angst um dieproblematisierten und zurückgedrängten westlichen Kulturkanons oderum den Verfall der Übersicht und die Einheit von Disziplinen in der Folgeder oft rhizomartig aufgesplitterten, als "Fallstudien" denunziertenTextproduktionen werden ebenfalls manifestiert. Auch gibt es Unmut überdie Konzentrierung auf vereinzelte Geschichten und Gegenstände der harmloserscheinenden Alltagswelt mit ihren Genealogien, in denen Intellegenz,Ideologien und Mikromachtstrukturen aufgespürt und kritisiert werden.

 

Massiver aber sind jeneReaktionen, die finanzielle und institutionelle Kürzungen sowiereal-politische Repressionen beinhalten. Fast die gesamten öffentlichen Unterstützungenfür zeitgenössische Kunst sind in den USA vor allem durch politischeInterventionen gestrichen worden. Oft verlieren kritische Diskurse auch ihreBedeutung, wenn sie ungeschickt grosso modo von halb-engagierten Bürokratenimplementiert werden. So mußte z. B. die Zweisprachige Erziehung inKalifornien enttäuschende Ergebisse akzeptieren. Ebenfalls laufenIntegritätsbemühungen und falsch verstandene Identitätspolitiküberall Gefahr, selbst am Universitätscampus zu neuen Segregationen, unproduktiven Situationenund neuen Diskriminierungen zu führen. Konsequenzen der culturalstudies und die damitzusammenhängenden kulturellen und politischen Aktivitäten betreffennicht nur US-amerikanische Institutionen, sondern auch jene BereicheWesteuropas, die - wenn auch unter anderen Voraussetzungen - culturalstudies für zumeist kunst-, kultur-und  teilweiseuniversitätspolitische Zwecke und Praktiken rezipieren. Bemerkenswert abersind auch jene Fälle, in denen selbst Figuren, deren Texte und HaltungenTeil der Konstituierung der cultural studies waren, sich heute mitunter reaktionärenDeformationen überlassen und ihre eigenen Emmanzipationsgeschichtenverleugnen oder denunzieren.34

 

Ob sich Cultural Studies durchgehend institutionalisieren oder wiederverschwinden, erfolgreich exportieren oder USA-Import von exklusiveneuropäischen Art Clubs abgeben, in ihrer derzeitigen Formation denunziertoder totverkauft werden, die Probleme, die diesem kritischen Denkenvouauseilen, bleiben bestehen. Eine multikulturelle, fürHeterogenität offene, pluralistische, demokratische, arroganzlose,einbeziehende Erziehungspolitik ist gesellschaftlich überlebensnotwendig,so wie auch ein Kritik-, Theorie-, Kultur- und Kunstverständnis, das vor corporateculture, Konsumismus,Spektakelkulturindustrie und Ausverkauf ebenso unkorrumpiert bleiben sollte wievor staatlichen Einflüssen. Die Bedeutung von unabhängigen autonomen,kritischen Universitäten und Kunstakademien, die keine Spielbälle vonTNCs, Neo-Nationalismen und transkapitalistischer Staatspolitik seindürfen, spielen dabei ebenso eine zentrale Rolle wie jedes siedurchlaufende kritische Individuum selbst. Aber wahrscheinlich erweise ich michin Bezug auf autonome, kritische, (un)zeitgemäße, institutionellnicht überkodierte, leistungsfähige Universitäten als naiverhilfloser Träumer.

 

Rainer Ganahl, Januar 1997

 

1 Paris 1970

2Immanuel Kant, Der Streit derFakultäten, (Felix Meiner Verlag) Hamburg, 1959

3 ebenda, S. 11

4 ebenda, S. 6

5 ebenda S. 12

6 ebenda S. 22

7 Wilhelm von Humbodt's, Ideen zueinem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, PhilippReclam Jun. Stuttgart, 1991

8 ebenda, S. 71

9 ebenda, S. 74

10 F. W. J. Schelling,Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums, (FelizMeiner Verlag) Hamburg, 1990 (1803) S. 23

11 Wilhelm von Humboldt,Über die innere und äußere Organisation der höherenwissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: Wilhelm von Humbodt,Schriften zur Anthropologie und Geschichte, (Wissenschaftliche BuchgesellschaftDarmstadt) Darmstadt 1960, S. 205 ff

12 Wilhelm von Humboldt,Über die innere und äußere Organisation der höherenwissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810), in: Wilhelm von Humbodt,Schriften zur Anthropologie und Geschichte, (Wissenschaftliche BuchgesellschaftDarmstadt) Darmstadt 1960, S. 213

13 vgl. Johann Gottlieb Fichte,Reden an die deutsche Nation, (Felix Meiner Verlag) Hamburg 1978, S. 207

14 vgl.Etienne Balibar, Lacrainte des masses, Politique et philosophie avant et après Marx,(Galilée), Paris 1997, S. 137 ff

15 vlg. Ferdinand Brunot,Histoire e la langue française, Paris 1935, cit. aus Etienne Balibar, S.145

16 Wilhelm von Humboldt,Über das vergleichende Sprachstudium. in: Wilhelm von Humbodt, Schriftenzur Anthropologie und Geschichte, a.a. O. S. 153

17 Bill Readings, The Universityin Ruins, Harward University Press, Cambridge, London 1996

18 So darf man nichtüberrascht sein, daß die bisherigen Kritiken, die sich meiner"S/L (seminars/lectures)" Serie annehmen, nur Hitlistendenkenpraktizieren, welches sich am progressiveren Rand "zensorisch" und"exklusiv" verhält - "warum ist x dabei, warum ist y nichtdabei" - und am reaktionären Rand "konservativ" - die Angstvor dem neuen Kanon.

19 siehe George Soros [Namekontrollieren] oder die ideologischen Instrumente der Weltbank und der GATT.

20 alleine schon der Titel diesesBuches ist bezeichnend: Sande Cohen, Academia and the Luster of Capital,Minneapolis: University of Minnesota Press, Minnesota, 1993

22 Die Mehrzahl der in derAusstellung gezeigten Vortragenden bemühen sich gerade um solchvermittelnde Diskurse, was von der österreichischen Presse (Standard,30.1.1997) symptomatisch nur als neuer Kanon für einen exklusivenKunstbetrieb beargwohnt und dahin reduziert wird. Es entgeht dem Journalisten,daß es sich hier um gesamtgesellschaftlich aktuelle, strukturelleKonfliktpotentiale handelt, von denen die Zeitung auf den restlichen Seiten zuberichten weiß.

23 vgl. Robert K. Fullinwider,Multicultural education: concepts, policies, and controversies, in: Robert K.Fullinwider (Ed.), Public education in a multicultural society: policy, theory,critique, Cambridge University Press, New York, 1996, p. 3 ff.

24 ebenda 5 ff

26 Die immer sehr kritischenProfessionellen dieser Studien, die sich selbst bestens in einer beachtlichenLiteratur analysieren, mögen mir diese verkürzte und ungenügendeDarstellung für diesen Kontext verzeihen.

27 vgl. Bill Readings, a.a.O.

28 Die Whitney Biennale von 1993,die ein Hauptaugenmerk der multikulturellen Kunstproduktion schenkte, bliebaufgrund der Kritik auch aus den Etagen der Hauptgeldgeber bis dato einEinzelfall.

29Sande Cohen  spricht auch vom intellektuellenNarzismus von Insidern

30vgl. Mike Kelleys Arbeit undText.

31 Das Überlappen von Kunstund Theorie erklärt sich vor allem auch durch das soeben Gesagte, was auchmeinen Fall als vorwiegend philosophisch ausgebildeter Künstlerbeschreibt. An anderer Stelle ist angedeutet, daß etliche der von mirabgebildeten Theoretiker die cultural studies direkt oder indirektmitbegründeten und fast alle in diesen Lehrgängen gelesen werden.

32 Sande Cohen, [keineseitenzahl... links von "society without history, einführung]

34 Baudrillard denunziertzeitgenössische Kunst und erklärt die 68iger Bewegung als"reaktionär"; Kristeva spricht sich gegen Feminismus aus undinteressiert sich für neue Formen des Sakralen; Irigary schärmt von"Jungfräulichkeit" und Seitter - Übersetzer von Foucault -wird Opfer seiner Carl Schmidt Faszination. 

 

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