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april 2001 - unedited...

 

FRANKFURTgeschädigt

Frankfurt war für mich als junger west-österreichischer Student in den 80er Jahren nicht ein Ort der Banken, der Lufthansa, der Studentenbewegungen und des Kapitals. Frankfurt war für mich ausschließlich nur ein intellektuelles Koordinatensystem. Als solches jedoch hat es mich absolut dominiert: Adorno, Horkheimer, Markuse, Habermas, surkamp taschenbuch wissenschaft und andere Verlagshäuser. Mit Sicherheit darf ich sagen, daß dieses “Frankfurt” für mich die Fahrkarte und das Visa für New York darstellt.

Bis zu meinem 20. Lebensjahr vagabundierte ich in den Ferien immer nur in Italien, Frankreich und Spanien rum. Es galt, nicht Deutsch zu sprechen, nicht als Deutscher oder Österreicher identifiziert zu werden. Das ist auch das offene Geheimnis meiner Fremdsprachaneignungsmanie. “Deutsch” zu sein war in den 70er und 80er Jahren unter Deutschen im Ausland noch ein Schimpfwort. Der undefinierbare Schrecken des Krieges mit seinen unaussprechbaren Verbrechen begleitete mich im Süden und Westen Europas als unbewußt/bewußtes Über-Ich. Die zeitliche Distanz zum Holocaust war einerseits unvorstellbar groß – das “Mittelalter” unserer Eltern – andererseits undenkbar nahe, was ich erst heute realisiere.

Die Entdeckung Deutschlands kam für mich erst spät und mit großen Überraschungen: daß die Orte des Wissens auch einer Geographie entsprachen, die ich besuchen konnte; daß die Schifahrerperspektive der Alpen ein verzerrtes Witzbild von Deutschland produzierte und daß die Tatorte des Nazi-Terrors – anders als in Österreich – durch Neubauten verstellt wurden. Als Student ohne Ort und Geld fand ich mich als Autostopper auf den deutschen Autobahnen und Raststädten wieder. Aus fünfzehnjähriger Erfahrung darf ich festhalten, daß nirgendwo in Europa Autostopper mehr geachtet wurden als in der Bundesrepublik. Frankfurt war die erste deutsche Stadt, die ich besuchte. Als Schwarzfahrer in der U-Bahn fiel ich den Handtaschen und Einkaufstüten tragenden Kontrollteams schon am ersten Tag auf. Unterschlupf fand ich unmittelbar für eine Woche bei einem alkoholsüchtigen Sozialfall in einem Wohnkomplex am Stadtrand, den ich in einer Einkaufsstraße kennenlernte.  Etwas verschüchtert marschierten wir jeden morgen zusammen 45 Minuten in die Innenstadt. Ich besuchte die Universität, selbst eine Vorlesung von Jürgen Habermas, dessen Sprachfehler mich beeindruckte. Im Anschluß daran flanierte ich in den Buchhandlungen und um die Villen, mit denen ich ein Vorkriegsdeutschland verband. Theodor W. Adorno und Walter Benjamin haben mich zur Genüge daran erinnert, daß es sowas gab. Die Sicherheitskameras einer jüdischen Institution verblüfften mich aufs Neue. Schließlich kam ich ja nur aus Vorarlberg und las nur Bücher. 

Bücherlesen hat Es in sich. Adorno zu lesen als suizid-freundlicher Student in einer Zeit der hochmediatisierten atomaren Vernichtungsszenarien gravierte die Aporien des Denkens und der Gesellschaft direkt unter die Haut. Ich erinnere mich, daß mich Teile der “Negativen Dialektik” so betroffen haben, daß ich die Autorität und der Zwang meiner Umgebung doppelt so stark, bzw. quasi-physisch verspürte. Mitunter wußte ich nicht mehr zwischen radikaler Selbstkritik und dem Willen zur Radikalität – oder Ohnmacht – zu unterscheiden – ein verflixtes Elexir in der Isolation eines Hochplateaus bei Innsbruck. Die Universität Innsbruck hatte die Kritische Theorie nicht im Lehrplan stehen. Anders als heute in den USA waren es dissidente Dozenten der Psychologie, die deren Lehre in Lese- und Diskussionsgruppen für kaum mehr als eine handvoll Studenten verbreiteten.

Was mich an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sicherlich am nachhaltigsten beeindruckte, war, neben der materialistischen, Interesse geleiteten Wissenschaftskritik, der Phänomenologiekritik, die Dialektik der Aufklärung und der Kulturkritik mit der generellen Haltung, “daß es kein richtiges Leben im Falschen geben könnte” die Analyse des Antisemitismus.  Als mich etliche Jahre später meine Interessen an Kunst, Kultur- und Gesellschaftskritik nicht etwa nach Frankfurt verschlugen, sondern nach New York, war, die in den USA geführte radikale Rassismus- und Eurozentrismuskritik für mich aufgrund meines Adornohintergrundes sofort verständlich: jedoch wiederum mit der schmerzhaften Vehemenz und Selbstkritik, wie damals das Studium von Adorno & Co. in mir bewirkten.

Neben Stuart Hall, Homi Bhabha, Gayatri Spivak und vielen anderen Kritikern aus post-kolonialen Kontexten hat mich Edward Saids “Orientalismus” Buch und seine Kultur- and Imperialismkritik sehr beeinflußt. Die Analyse von Wissen und konlonialer Macht mit all seinen Institutionen und Konsequenzen bedeutete für mich die Fortsetzung des Kritikansatzes, wie ich ihn mit Leuten um Frankfurt und Paris assoziierte. Edward Said ist ein in New York lebender Palästinenser und selbst Opfer der politischen Geschichte des Nahen Ostens, die wiederum direkt mit dem Antisemitismus Nazi-Deutschlands zusammenhängt. Interessanterweise ist Said wie Adorno nicht nur ein exzellenter Kulturkritiker und angesehener politischer Kommentator, sondern auch ein Konzertpianist und Adornokenner. Edward Said ist einer der höchstbezahltesten Professoren in den USA und unterrichtet an der Columbia University, wo ein Studienjahr an die 35 000 US Dollar kostet und es keine Garantie gibt, in sein auf 16 Leute reduziertes Seminar aufgenommen zu werden. Als ich mich ihm 1994 an der Türe als Freier Höhrer präsentierte, wurde ich zuerst abgewiesen: “Who are you?” – “I am an artist from Austria but also working on a dissertation on Adorno” – und die Semestertür öffnete sich für mich gratis.

Aus der Adornodissertation ist nichts geworden. Ich gab auf. Aber Edward Saids Seminar mit dem Titel “The Representation of Intellectuals” hat mich als Künstler bis heute beeinflußt: “Seminars/Lectures” besteht aus Fotos von Vortragenden und Zuhörern. Seit 1995 arbeite ich an dieser Fotoserie von für mich interessanten Vorlesungen und Seminaren. Bei meinem letzten Aufenthalt in Frankfurt habe ich eine Reihe von Vorlesungen besucht und fotografiert: u.a. “S/L: Mohammed H. Allafi , Islamische Kultur und Modernismus – Zur Rolle der Migranten und säkularen Intellektuellen beim Aufbau einer Zivilgesellschaft im Vorderen Orient, Universität Frankfurt, Frankfurt, 1/26/2000”. Dieses Seminar war für mich eine der interessantesten Universitätsveranstaltungen und sicherlich im Sinne der Frankfurter Schule. Neben dem Inhalt begeisterte mich der Vortragende. Die soziale, ökonomische, kulturelle und intellektuelle Integration der sogenannten “Gastarbeiter” in Europa ist ebenso dringend wie die Ablehnung von Identitätsvorstellungen, die sich immer noch an ethnische, religöse, kulturelle, sprachliche und soziale Präferenzen und Hierarchien orientieren. Ziel ist es, wie in den USA einen Bürgerbegriff zu entwickeln, der gegenüber Hautfarbe, religiöser, kultureller und ethnischer Herkunft und Orientierung indifferent ist, damit alle im Lande lebenden und arbeitenden Menschen sich damit identifizieren können. Heteroginität und kulturelle Vielfalt sind ein Zeichen von gesellschaftlicher Komplexität und Reichtum und muß akzeptiert und gefördert werden.

Die Veränderungen von Produktions- und Transport- und Kommunikationsmitteln im Prozeß der Post-Industrialisierung, Globalisierung und Neoliberalisierung der Welt haben auch eine massive Veränderung von Arbeits- und Sozialverhältnissen bewirkt. Karl Marx ist einer der wesentlichsten Analytiker dieser Zusammenhänge von Natur, Mensch, Technologie, Gesellschaftordung und deren Austausch- und Expressionspotenziale. So auch die Frankfurter Schule mit ihrem Begrifff der Zweiten Natur und ihrer Marxrezeption, die auch für mich wichtig war. Im Sinne der Überschreitung von klassischen institutionellen Grenzen habe ich begonnen, mich als Künstler den Themen Wissen, Macht und deren Vermittlung zu stellen: wesentlich dabei sind das Erlernen von Fremdsprachen (Russisch, Japanisch, Koreanisch, Chinesisch usw.) als Kunstpraxis und das Abhalten von Leseseminaren und Diskussionsforen, um direkt mit einem interessierten Publikum in Kontakt zu kommen. Seit 1998 organisiere ich u. a. kleine Marx-Lesezirkel. Die dabei entstehenden Fotos, zusammen mit den “Seminars/Lectures Series”, stellen für mich eine Art “Pädagogische Fotografie” dar, die indexikalisch auf die Lektüre, die dahinterstehende Praxis und das gesellschaftsanaytische und -kritische Potenzial verweist. Formal nimmt diese Fotografie durch die Akumulation und Systematik über fast ein Jahrzehnt eine eigene ästhetische Qualität an, die die Nähe zum ästhetisch anspruchslosen Dokument und der technisch unvollkommenen do-it-yourself Fotopraxis nicht irritiert. Bei den “S/L” Fotos bin ich als freier Höhrer ins Vortragsgeschehen einbezogen und die Perspekive ist ad hoc und subjektiv, ohne Blitzlicht, ohne zentrale Perspective, ohne klarer Bildanordnung, ohne technischer Brillianz. Dasselbe gilt auch für die ”Karl Marx Lesen” Fotos, wo die Kamera unterm Sprechen ohne Objektfinder nur mit dem Finger direkt vom Tisch oder dem Stativ bedient wird.

Das Bild “Frankfurt” stellt eine Abbildung des in den fünfziger Jahren erbauten Gebäudes des Instituts für Sozialforschung dar. Anders als meine “S/L” Fotos bedient sich diese Abbildung der in Deutschland in der Gegenwartskunst dominanten Praxis von Großfotografie mit Zentralperspektive, ästhetischer Subjektivitätslosigkeit und technischer Brillianz. Das Bild “Frankfurt” und das Textbild “Frankfurt” – die großformatige vertikale Wandschrift “Frankfurt” – besitzen für mich den Beschwörungscharakter, dem der kritische Intellektelle gemäß Adornos und Horkheimers “Dialektik der Aufklärung” widerstehen müßte. Da die Bedeutung dieser Gruppe von Intellektuellen mehr ins Vergessen gerät und für mich heute die wesentlichen kritischen Beiträge einer multikulturellen Gesellschaftskritik nicht mehr aus Deutschland kommen, entschloß ich mich für diese beiden abstrakten Objekte, obwohl ich gegen die Akademisierung, Historisierung und schlußendlich Musealisierung der Frankfurter Schule bin.

“Sprache der Emigration: Robert Goldmann” ist Teil einer Serie mit Interviews von in New York lebenden deutschsprachigen Menschen, die der Antisemitismus und Naziterror der 30er und 40er Jahre des 20sten Jahrhunderts wie Adorno, Horkheimer und Markuse in die Emigration  getrieben haben. Einige der Interviewten sind auch Überlebende von Konzentrationslagern. Diese Interview-Fotoserie ist Teil einer mündlichen und fotografischen Geschichtsschreibung, die mich mit einer Gruppen von Leuten in Kontak brachte, von deren Existenz ich “nichts wußte”: Mein “Nicht-Wissen-Wissen”  von dieser Emigrationsgruppe erschien mir insofern als symptomatisch für die Geschichtsverdrängung und Amnesie der Nachkriegsgeneration, als ich hier in New York 10 Jahre lang “side by side” mit Menschen dieses Schicksales lebte. Eine direkte Verbindung zwischen historisch-abstraktem Denken über Emigration vermittelt durch Bücher und die Medien und dem direkten Kontakt mit Emigranten und deren Schicksal kam erst sehr spät zusammen, hat mich aber deshalb nicht weniger beeindruckt. Die Geschichte von Robert Goldmann ist interessant in Bezug auf Frankfurt als Stadt und als intellektueller Handelsplatz. Vertrieben von der Umgebung Frankfurts wegen Antisemitismus siedelte die Landarztfamilie Goldmann zuerst in die Stadt Frankfurt. Im Anschluß an die Kristallnacht, der zufolge sein Vater nach Buchenwald kam, schaffte die Familie es noch, nach New York zu emigrieren. Der Vater konnte Buchenwald durch glückliche Umstände wieder verlassen und konnte, wie auch der Großvater in die USA fliehen. Die Großmutter wählte den Freitod. Robert Goldmann hat hier in New York studiert und wurde zum Journalisten ausgebildet. Seit vielen Jahren arbeitet er bei der Anti-Defamation League, einer Institution, die Vorurteile, Antisemitismus und Rassismus global studiert und versucht zu bekämpfen. Herr Goldmann beschreibt sein Verhältnis zu Deutschland sehr positiv und arbeitet auch mit der Frankfurter Presse und dem deutschen Buchhandel zusammen (siehe auch seine Memoirien: “Flucht in die Welt”, Frankkfurt, Fischer Taschenbuch Verlag 1996).

 

Rainer Ganahl, New York, April 2001

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