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Heike Eipeldauer im Gespräch mit Rainer Ganahl
Heike Eipeldauer in an interview with Rainer Ganahl


Fahrrad-Passion
Bike passion


Heike Eipeldauer im Gespräch mit Rainer Ganahl uber seine Fahrrad-Passion
Heike Eipeldauer talks with Rainer Ganahl about his bike passion


HE: Wie kam es zu deiner Fahrrad-Passion? Welche persönliche Bedeutung
hat Radfahren für dich und auf welche Weise und zu welchem
Zeitpunkt ist es zum Thema und Instrument deiner Kunstproduktion
geworden?
RG: Der Weg von zu Hause in die Hauptschule war endlos und Busse
verkehrten damals noch nicht. Was blieb, war das Fahrrad. Das Fahrrad
ist oft das schnellste und effizienteste Verkehrsmittel in einer Großstadt
und das selbst in New York City. Für meine Arbeit als Künstler benutze
ich es erst seit ungefähr zehn Jahren. Es interessierte mich aber weniger
das Fahrrad an sich, sondern das Fahren und Benutzen der Räder.
Entweder fuhr ich freihändig in der Mitte der Straße auf signifikanten
Strecken gegen den Verkehr und filmte dieses Unternehmen oder ich
benutz(t)e es als Plattform zum Lesen von Texten. Das Fahrrad als Fetisch
spielte erst durch die historischen Räder im Verhältnis zu meinen I
wanna be Alfred Jarry-Arbeiten eine Rolle.
HE: Mit dem programmatischen Titel I wanna be Alfred Jarry rückst
du eine historische Künstlerfigur ins Zentrum deiner Ausstellung im tresor,
die schon zu Lebzeiten zur Legende wurde – als Fahrradenthusiast,
Poète maudit, exzentrischer Querdenker und Erfinder der Pataphysik.
Ob für Dadaismus, Surrealismus, das Theater Artauds oder Ionescos
oder rezentere Künstler wie Kippenberger, Schlingensief oder Meese gilt
Jarry als maßgebliche Bezugsgröße. Wie weit reicht deine Identifikation
mit Alfred Jarry bzw. was schöpfst du aus dieser Annäherung für dein
Künstlerbild?
RG: Du sprichst hier gleich das an, was ich hasse am Phänomen Alfred
Jarry: nämlich all jene, die Kunst gleichsetzen mit Chaos, malerischen
und installativen Materialschlachten und Bürgerschreck-Aktionen,
die vorerst alle schockieren, sich aber dann gut verkaufen lassen.
Alfred Jarry muss hier oft als Pate für alberne, aber kalkulierte Privatexpressionismen
herhalten, die ich verabscheue. Meese und Schlingensief
stehen genau für das Gegenteil, von all dem, was mich an Kunst in-
HE: Wie kam es zu deiner Fahrrad-Passion? Welche persönliche Bedeutung
hat Radfahren für dich und auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt ist
es zum Thema und Instrument deiner Kunstproduktion geworden?
RG: Der Weg von zu Hause in die Hauptschule war endlos und Busse verkehrten
damals noch nicht. Was blieb, war das Fahrrad. Das Fahrrad ist oft
das schnellste und effizienteste Verkehrsmittel in einer Großstadt und das
selbst in New York City. Für meine Arbeit als Künstler benutze ich es erst
seit ungefähr zehn Jahren. Es interessierte mich aber weniger das Fahrrad
an sich, sondern das Fahren und Benutzen der Räder. Entweder fuhr
ich freihändig in der Mitte der Straße auf signifikanten Strecken gegen den
Verkehr und filmte dieses Unternehmen oder ich benutz(t)e es als Plattform
zum Lesen von Texten. Das Fahrrad als Fetisch spielte erst durch die
historischen Räder im Verhältnis zu meinen I wanna be Alfred Jarry-Arbeiten
eine Rolle.
HE: Mit dem programmatischen Titel I wanna be Alfred Jarry rückst du
eine historische Künstlerfigur ins Zentrum deiner Ausstellung im tresor,
die schon zu Lebzeiten zur Legende wurde – als Fahrradenthusiast, Poète
maudit, exzentrischer Querdenker und Erfinder der Pataphysik. Ob für
Dadaismus, Surrealismus, das Theater Artauds oder Ionescos oder rezentere
Künstler wie Kippenberger, Schlingensief oder Meese gilt Jarry als maßgebliche
Bezugsgröße. Wie weit reicht deine Identifikation mit Alfred Jarry
bzw. was schöpfst du aus dieser Annäherung für dein Künstlerbild?
RG: Du sprichst hier gleich das an, was ich hasse am Phänomen Alfred
Jarry: nämlich all jene, die Kunst gleichsetzen mit Chaos, malerischen und
installativen Materialschlachten und Bürgerschreck-Aktionen, die vorerst
alle schockieren, sich aber dann gut verkaufen lassen. Alfred Jarry muss
hier oft als Pate für alberne, aber kalkulierte Privatexpressionismen herhalten,
die ich verabscheue. Meese und Schlingensief stehen genau für das
Gegenteil, von all dem, was mich an Kunst interessiert. Mich interessieren
neben dem rein historischen Alfred Jarry und seinen literarischen Schriften
nur jene Aspekte, die mit dem Fahrrad zu tun haben, sein „Perpetual
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teressiert. Mich interessieren neben dem rein historischen Alfred Jarry
und seinen literarischen Schriften nur jene Aspekte, die mit dem Fahrrad
zu tun haben, sein „Perpetual Motion Food“, seine Sprache und die
politische Skizze, die König Ubu so animierte, dass sie darin die Diktatoren
des zwanzigsten Jahrhunderts vorab projizierte. Alfred Jarry war
ein fanatischer Fahrradfahrer, interessiert an Fremdsprachen und technologischen
Errungenschaften und lebte ein freies, sexuell transgressives
und finanziell ausschweifendes Leben. Heute Skandale zu inszenieren,
ist für mich wie werbegeile Public-Relation-Stunts zu machen, die
mehr oder weniger alle durchgespielt sind und nur noch nerven, sich
aber in den meisten Fällen finanziell rentieren.
Mein I wanna be Alfred Jarry-Titel ist keine wortwörtlich zu nehmende
Erklärung, sondern eine künstlerische Wahl als indexikalisches
Manöver, das vieldeutig und ambivalent bleibt, jedoch Referenzen klar
benennt. Statt wie ein Kai Althoff schamlos die Ästhetik von Schiele und
Klimt nachzuäffen, sage ich einfach „I wanna be AJ“ und regle hier meine
Rechnung vorab. Sicher ist, dass ich, der ich mein ganzes Leben weder
geraucht noch Alkohol oder Drogen konsumiert habe, heterosexuell
bin und ein organisiertes Familienleben mit zwei Kindern und Frau führe,
keine Basis für die Identifikation mit einem Exzentriker sehe, der
durch selbstzerstörerischen Alkohol- und Drogenkonsum bereits im Alter
von 34 Jahren starb. Auch habe ich keine Freude an Pistolen und
ubuesquer, schwachsinniger Gewalt, die ein von Wahnvorstellungen getriebener
Jarry im Suff zur Schau stellte und dabei selbst seine Freunde
mit der Waffe bedrohte und beschoss.
HE: Ein Roman Jarrys, der dich inspiriert hat, ist Le Surmâle (1902),
in dem er eine vorausschauende, düstere Vision der Überformung des
Menschen durch die Technik formuliert. Der Supermann verkörpert den
auf seine physischen Funktionen reduzierten modernen Menschen, der
die Grenzen seiner menschlichen Leistungsfähigkeit nicht nur im Sportlichen,
sondern auch im Sexuellen ausreizt, unterstützt durch leistungssteigernde
Drogen: „Die Liebe ist ein belangloser Akt, den man beliebig
oft wiederholen kann“, eröffnet der Titelheld das Buch. Seine Überpotenz,
die in einem 24-stündigen unaufhörlichen Liebesakt mündet,
bringst du mit dem gegenwärtigen „Äquivalent“ Viagra in Verbindung …
RG: In diesem Roman entwirft Jarry das „Perpetual Motion Food“,
eine Nahrung, die durch eine Mischung aus Alkohol und Strychnin endlose
Bewegung garantiert und die Muskeln bereits während der Anstrengung
regeneriert. Laut Wikipedia wurde Strychnin wirklich noch legal
Motion Food“, seine Sprache und die politische Skizze, die König Ubu so
animierte, dass sie darin die Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts vorab
projizierte. Alfred Jarry war ein fanatischer Fahrradfahrer, interessiert
an Fremdsprachen und technologischen Errungenschaften und lebte ein
freies, sexuell transgressives und finanziell ausschweifendes Leben. Heute
Skandale zu inszenieren, ist für mich wie werbegeile Public-Relation-
Stunts zu machen, die mehr oder weniger alle durchgespielt sind und nur
noch nerven, sich aber in den meisten Fällen finanziell rentieren.
Mein I wanna be Alfred Jarry-Titel ist keine wortwörtlich zu nehmende
Erklärung, sondern eine künstlerische Wahl als indexikalisches Manöver,
das vieldeutig und ambivalent bleibt, jedoch Referenzen klar benennt. Statt
wie ein Kai Althoff schamlos die Ästhetik von Schiele und Klimt nachzuäffen,
sage ich einfach „I wanna be AJ“ und regle hier meine Rechnung vorab.
Sicher ist, dass ich, der ich mein ganzes Leben weder geraucht noch Alkohol
oder Drogen konsumiert habe, heterosexuell bin und ein organisiertes
Familienleben mit zwei Kindern und Frau führe, keine Basis für die Identifikation
mit einem Exzentriker sehe, der durch selbstzerstörerischen Alkohol-
und Drogenkonsum bereits im Alter von 34 Jahren starb. Auch habe
ich keine Freude an Pistolen und ubuesquer, schwachsinniger Gewalt, die
ein von Wahnvorstellungen getriebener Jarry im Suff zur Schau stellte und
dabei selbst seine Freunde mit der Waffe bedrohte und beschoss.
HE: Ein Roman Jarrys, der dich inspiriert hat, ist Le Surmâle (1902), in
dem er eine vorausschauende, düstere Vision der Überformung des Menschen
durch die Technik formuliert. Der Supermann verkörpert den auf
seine physischen Funktionen reduzierten modernen Menschen, der die
Grenzen seiner menschlichen Leistungsfähigkeit nicht nur im Sportlichen,
sondern auch im Sexuellen ausreizt, unterstützt durch leistungssteigernde
Drogen: „Die Liebe ist ein belangloser Akt, den man beliebig oft wiederholen
kann“, eröffnet der Titelheld das Buch. Seine Überpotenz, die in einem
24-stündigen unaufhörlichen Liebesakt mündet, bringst du mit dem gegenwärtigen
„Äquivalent“ Viagra in Verbindung …
RG: In diesem Roman entwirft Jarry das „Perpetual Motion Food“, eine
Nahrung, die durch eine Mischung aus Alkohol und Strychnin endlose Bewegung
garantiert und die Muskeln bereits während der Anstrengung regeneriert.
Laut Wikipedia wurde Strychnin wirklich noch legal 1904 vom
Marathon Olympiasieger Thomas Hicks während des Laufes in geringen
Dosen mit Brandy und Eiklar konsumiert, weil Wassertrinken als unsportlich
galt. Das erinnert an Alfred Jarry, der seinen Absinth anscheinend mit
Essig und etwas Tinte trank.
10 11
1904 vom Marathon Olympiasieger Thomas Hicks während des Laufes
in geringen Dosen mit Brandy und Eiklar konsumiert, weil Wassertrinken
als unsportlich galt. Das erinnert an Alfred Jarry, der seinen Absinth
anscheinend mit Essig und etwas Tinte trank.
HE: Den sportlichen Rekordwahn zu Zeiten Jarrys und dessen Auswirkungen
thematisiert in der Ausstellung auch eine Druckgrafik von Henri
de Toulouse-Lautrec, die den walisischen Radrennfahrer und Weltmeister
Jimmy Michael (1877–1904) zeigt, beobachtet von dem Sportreporter
Frantz Reichel sowie Michaels für Dopingtricks berühmt-berüchtigten
Manager Choppy Worburton – frappante Parallelen zu aktuellen Dopingskandalen
im professionellen Radrennsport …
RG: Allerdings. Nun, bei Jarry wird die Leistung einmal explizit im
phantasmagorischen 10.000 Meilen Rennen von Wladiwostok nach Paris
unter Beweis gestellt, in dem ein Quintuplet, also fünf Radfahrer auf
einem Gerät gegen einen Zug fahren und das mit Geschwindigkeiten von
über dreihundert Stundenkilometern. Die Radfahrer ernähren sich ausschließlich
von PMF, wobei einer auch an einer Überdosis stirbt, sein
Körper aber dennoch reflexartig noch für eine Weile weiterradelt. Der
zweite Beweis der Wirksamkeit von PMF wird indirekt auch durch den
unaufhörlichen Liebesakt illustriert, wo ein Arzt durch ein Guckloch 24
Stunden lang 82 Liebeskonsumationen von zwei Personen zählt. Somit
wird mit dem „Perpetual Motion Food“ genau jene Substanz antizipiert,
welche die Gemüter in den letzten Jahren seit der zufälligen Erfindung
von Pfizers blauen Pillen bewegt. Der Sport hat seinerseits in keiner
Weise den Anschluss an neue pharmazeutische und andere Technologien
verpasst und macht mit Eigenblutdoping und anderen Skandalen ständig
von sich reden. Deshalb liegt mir viel daran, Alfred Jarrys Erfindung
zumindest auch Kunstinteressierten zu vermitteln. Das „Perpetual Motion
Food“ (PMF) wird in meiner Arbeit vielseitig gewürdigt. Meine allererste
Reaktion darauf war ein Re-enactment: Perpetual Motion Food – A
24 Hour Re-Enactment (1902/2007) und wurde unter Konsum von Viagra
durchgeführt, was uns aber trotz Chemieeinsatzes nicht auf die von
Alfred Jarry vorgegebenen 82 „petites mortes“, die „kleinen Tode“ brachte.
Im Gegensatz zum de facto misogynen Roman Le Surmâle, in dem die
Frauen links und rechts zu Tode vergewaltigt werden – Jarry war kein
Freund von Frauen und seiner Biografie entsprechend recht unsympathisch
und kompliziert –, haben wir beide diese 24 Stunden gut überlebt
und können diese Liebeserfahrung auch ohne PMF nur allgemein weiterempfehlen,
wenn man in der Lage ist, 24 Stunden gemeinsam ohne
HE: Den sportlichen Rekordwahn zu Zeiten Jarrys und dessen Auswirkungen
thematisiert in der Ausstellung auch eine Druckgrafik von Henri
de Toulouse-Lautrec, die den walisischen Radrennfahrer und Weltmeister
Jimmy Michael (1877–1904) zeigt, beobachtet von dem Sportreporter
Frantz Reichel sowie Michaels für Dopingtricks berühmt-berüchtigten Manager
Choppy Worburton – frappante Parallelen zu aktuellen Dopingskandalen
im professionellen Radrennsport …
RG: Allerdings. Nun, bei Jarry wird die Leistung einmal explizit im phantasmagorischen
10.000 Meilen Rennen von Wladiwostok nach Paris unter
Beweis gestellt, in dem ein Quintuplet, also fünf Radfahrer auf einem Gerät
gegen einen Zug fahren und das mit Geschwindigkeiten von über dreihundert
Stundenkilometern. Die Radfahrer ernähren sich ausschließlich von
PMF, wobei einer auch an einer Überdosis stirbt, sein Körper aber dennoch
reflexartig noch für eine Weile weiterradelt. Der zweite Beweis der Wirksamkeit
von PMF wird indirekt auch durch den unaufhörlichen Liebesakt
illustriert, wo ein Arzt durch ein Guckloch 24 Stunden lang 82 Liebeskonsumationen
von zwei Personen zählt. Somit wird mit dem „Perpetual Motion
Food“ genau jene Substanz antizipiert, welche die Gemüter in den letzten
Jahren seit der zufälligen Erfindung von Pfizers blauen Pillen bewegt.
Der Sport hat seinerseits in keiner Weise den Anschluss an neue pharmazeutische
und andere Technologien verpasst und macht mit Eigenblutdoping
und anderen Skandalen ständig von sich reden. Deshalb liegt mir viel
daran, Alfred Jarrys Erfindung zumindest auch Kunstinteressierten zu
vermitteln. Das „Perpetual Motion Food“ (PMF) wird in meiner Arbeit vielseitig
gewürdigt. Meine allererste Reaktion darauf war ein Re-enactment:
Perpetual Motion Food – A 24 Hour Re-Enactment (1902/2007) und wurde
unter Konsum von Viagra durchgeführt, was uns aber trotz Chemieeinsatzes
nicht auf die von Alfred Jarry vorgegebenen 82 „petites mortes“, die
„kleinen Tode“ brachte. Im Gegensatz zum de facto misogynen Roman Le
Surmâle, in dem die Frauen links und rechts zu Tode vergewaltigt werden
– Jarry war kein Freund von Frauen und seiner Biografie entsprechend
recht unsympathisch und kompliziert –, haben wir beide diese 24 Stunden
gut überlebt und können diese Liebeserfahrung auch ohne PMF nur allgemein
weiterempfehlen, wenn man in der Lage ist, 24 Stunden gemeinsam
ohne Computer, Telefon und jeder sonstigen Störung mit nur Liebe auszukommen.
Derzeit arbeite ich auch an einer geschnitzten Altarskulptur und
an Interviews mit namhaften Dopingsündern des Radrennsports.
HE: In deiner Videoarbeit The Passion considered as an Uphill Bicycle
Race or I wanna be Alfred Jarry (1903/2011), projizierst du Jarrys grotes12
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Computer, Telefon und jeder sonstigen Störung mit nur Liebe auszukommen.
Derzeit arbeite ich auch an einer geschnitzten Altarskulptur und
an Interviews mit namhaften Dopingsündern des Radrennsports.
HE: In deiner Videoarbeit The Passion considered as an Uphill Bicycle
Race or I wanna be Alfred Jarry (1903/2011), projizierst du Jarrys groteske
Erzählung der Passion Christi als Bergradrennen in die Tiroler Alpen
und verwandelst sie in eine Art zeitgenössischen Heimatfilm. Mit einem
österreichischen Waffenrad und einer Jarry gewidmeten Bronzeglocke
mit Penisklöppel sowie einem mit Tiroler Federkielstickerei bestickten
Kuhglockenriemen ausgestattet, besteigst du einen verschneiten Berg
im Navistal, passierst diverse Marterln und rezitierst „am Gipfel“, bei
einem Kuhstall angekommen, Jarrys Text. Damit näherst du dich nicht
nur der Zeit Jarrys, sondern berührst auch regionale Traditionen und
eine wichtige Episode österreichischer Fahrradgeschichte. Wie verhält
sich ganz grundsätzlich diese dezidierte Bezugnahme auf Traditionell-
Rurales zu deinem Dasein als global operierendem Avantgarde-Künstler,
der sich nomadisch quer durch alle Kontinente bewegt und das Erlernen
der Weltsprachen als künstlerische Praxis begreift?
RG: Da ich seit 1986 nicht mehr in Österreich lebe, sind die Alpen
für mich reiner Exotismus. Ähnlich erscheinen mir auch die omnipräsenten
Devotionalien, die ja der Wanderer in Tirol und Vorarlberg auf
Schritt und Tritt bis auf die Bergspitzen antrifft. Die Passion Christi als
Bergradrennen ist ein fast unbekannter Text von Jarry, in dem der Heilige
Matthias als Sportreporter und Christus als Radrennfahrer auftreten.
Das Fahrrad ist ein durch eine Reifenpanne beschädigtes Kreuz und
die Kreuzigung ein in der zwölften Runde stattfindender und allen bekannter,
bedauerlicher Unfall. Danach muss Jesus das Rennen als Luftfahrer
fortsetzten, was die Zeichnung Avoir l‘apprenti dans le soleil (Den
Lehrling in der Sonne haben) von Marcel Duchamp von 1914 sehr gut illustriert
und mir als Vorlage für eine eigene Zeichnungsserie, eine Neonarbeit
und eines meiner Videos, in denen ich gegen den Verkehr fahrend
mit dem Titel The Apprentice in the Sun – Bicycling Bucharest (2006)
diente. Das Waffenrad als österreichisches Produkt, das schon 1896 –
also zu Zeiten Alfred Jarrys – als Markenname registriert wurde, drängte
sich für diesen Alpenfilm direkt auf.
Die Genese dieses Filmes verdanke ich einer Anzahl von Zufällen:
Bei der genauen Betrachtung einer alten ländlichen Glocke fiel mir auf,
dass der Klöppel sich für eine jarryesque Umdeutung in einen Penis bestens
eignen könnte. Als ich so eine solche Glocke selber in Bronze fertigke
Erzählung der Passion Christi als Bergradrennen in die Tiroler Alpen
und verwandelst sie in eine Art zeitgenössischen Heimatfilm. Mit einem
österreichischen Waffenrad und einer Jarry gewidmeten Bronzeglocke mit
Penisklöppel sowie einem mit Tiroler Federkielstickerei bestickten Kuhglockenriemen
ausgestattet, besteigst du einen verschneiten Berg im Navistal,
passierst diverse Marterln und rezitierst „am Gipfel“, bei einem Kuhstall
angekommen, Jarrys Text. Damit näherst du dich nicht nur der Zeit
Jarrys, sondern berührst auch regionale Traditionen und eine wichtige
Episode österreichischer Fahrradgeschichte. Wie verhält sich ganz grundsätzlich
diese dezidierte Bezugnahme auf Traditionell-Rurales zu deinem
Dasein als global operierendem Avantgarde-Künstler, der sich nomadisch
quer durch alle Kontinente bewegt und das Erlernen der Weltsprachen als
künstlerische Praxis begreift?
RG: Da ich seit 1986 nicht mehr in Österreich lebe, sind die Alpen für
mich reiner Exotismus. Ähnlich erscheinen mir auch die omnipräsenten
Devotionalien, die ja der Wanderer in Tirol und Vorarlberg auf Schritt und
Tritt bis auf die Bergspitzen antrifft. Die Passion Christi als Bergradrennen
ist ein fast unbekannter Text von Jarry, in dem der Heilige Matthias
als Sportreporter und Christus als Radrennfahrer auftreten. Das Fahrrad
ist ein durch eine Reifenpanne beschädigtes Kreuz und die Kreuzigung ein
in der zwölften Runde stattfindender und allen bekannter, bedauerlicher
Unfall. Danach muss Jesus das Rennen als Luftfahrer fortsetzten, was die
Zeichnung Avoir l‘apprenti dans le soleil (Den Lehrling in der Sonne haben)
von Marcel Duchamp von 1914 sehr gut illustriert und mir als Vorlage für
eine eigene Zeichnungsserie, eine Neonarbeit und eines meiner Videos, in
denen ich gegen den Verkehr fahrend mit dem Titel The Apprentice in the
Sun – Bicycling Bucharest (2006) diente. Das Waffenrad als österreichisches
Produkt, das schon 1896 – also zu Zeiten Alfred Jarrys – als Markenname
registriert wurde, drängte sich für diesen Alpenfilm direkt auf.
Die Genese dieses Filmes verdanke ich einer Anzahl von Zufällen: Bei
der genauen Betrachtung einer alten ländlichen Glocke fiel mir auf, dass
der Klöppel sich für eine jarryesque Umdeutung in einen Penis bestens eignen
könnte. Als ich so eine solche Glocke selber in Bronze fertigte und ich
durch einen weiteren Zufall die Chance erhielt, in Innsbruck eine kleine
Ausstellung zu machen, wollte ich vorerst nur eine Kuh mit meiner Glocke
schmücken und mit ihr durch die Stadt spazieren. Das jedoch erwies sich
als nahezu unmöglich und mir blieb nur die Option, eine Kuh zu besuchen.
Da in New York kaum Kreuze zu sehen sind – alle Parkanlagen und öffentlichen
Plätze sind kreuzfrei –, war ich recht verblüfft, ein Riesenkruzifix
14 15
te und ich durch einen weiteren Zufall die Chance erhielt, in Innsbruck
eine kleine Ausstellung zu machen, wollte ich vorerst nur eine Kuh mit
meiner Glocke schmücken und mit ihr durch die Stadt spazieren. Das
jedoch erwies sich als nahezu unmöglich und mir blieb nur die Option,
eine Kuh zu besuchen. Da in New York kaum Kreuze zu sehen sind – alle
Parkanlagen und öffentlichen Plätze sind kreuzfrei –, war ich recht verblüfft,
ein Riesenkruzifix mit nacktem Jesus mitten auf einer Stadtbrücke
in Innsbruck anzutreffen. Dies hinterließ einen surrealen „unglaublichen“
Effekt auf mich und rückte Jarrys Passion wieder in den Blick.
Ich musste nur die Ordnung etwas verändern, das Fahrrad die Schneehänge
hochzerren und oben einer Kuh Jarrys Kreuzigungstext vorlesen,
nachdem ich ihr zuvor die Glocke um den Hals gehängt hatte. Wie immer
half das „Perpetual Motion Food“ beim Almaufstieg und beim Genießen
der Schönheit der Alpen. Das alles wirkte sehr vertraut wie auch fremd
und grotesk auf mich und war mit den Texten von Alfred Jarry vergleichbar.
Auch komm ich nicht umhin, an die Päpste im Mittelalter zu denken,
die beim Überqueren der Alpen die Vorhänge schlossen, weil sie den
Anblick der Berge als hässlich und vom Teufel besessen empfanden.
HE: Du hast jetzt von der Genese des konkreten Videos erzählt, aber
kannst du in diesem Bezug auf Traditionell-Ländliches allgemein ein für
die zeitgenössische Kunst fruchtbares Phänomen erkennen?
RG: Ich sehe zwischen religiösen Artefakten, traditionell-ländlichen
Dingen, moderner Kunst, Kitsch und der Konsumware aus China oder
Cupertino, Kalifornien, eigentlich keinen Unterschied. Ich finde alles interessant,
was aber nicht heißt, dass ich alles konsumieren, haben oder
sammeln muss. Jedes Objekt hat seine Produktions- und Verwendungsgeschichte
und ist informativ im Zusammenhang diverser Kontexte, in
denen ein Objekt zirkuliert, benutzt und tradiert wird. Derzeit schätze
ich auch alpine und ländliche Objekte und bin fasziniert von anachronistischen
(Reproduktions-)Techniken wie etwa 16-mm-Film, Silbergelatineabzügen
oder Bleiglasfenstertechniken. Deshalb habe ich als
zeitgenössischer Künstler keine Angst, mir da in den Alpen Holzsplitter
einzuziehen. Derzeit arbeite ich an zwei Ausstellungen, die in ehemaligen
Kirchen stattfinden – ohne dabei nervös zu werden. Im Gegenteil,
der Kontext wird zusätzlich durch den Ort bereichert und inspiriert mich
zu dieser vorher zitierten PMF Altarskulptur. In New York City verwendet
man solche ehemaligen Orte der religiösen Andacht für Diskotheken,
Clubs und Einkaufszentren, was interessante Vergleiche eröffnet. In Europa
werden diese „entweihten Orte“ vorwiegend der Kunst und der Kulmit
nacktem Jesus mitten auf einer Stadtbrücke in Innsbruck anzutreffen.
Dies hinterließ einen surrealen „unglaublichen“ Effekt auf mich und
rückte Jarrys Passion wieder in den Blick. Ich musste nur die Ordnung etwas
verändern, das Fahrrad die Schneehänge hochzerren und oben einer
Kuh Jarrys Kreuzigungstext vorlesen, nachdem ich ihr zuvor die Glocke
um den Hals gehängt hatte. Wie immer half das „Perpetual Motion Food“
beim Almaufstieg und beim Genießen der Schönheit der Alpen. Das alles
wirkte sehr vertraut wie auch fremd und grotesk auf mich und war mit den
Texten von Alfred Jarry vergleichbar. Auch komm ich nicht umhin, an die
Päpste im Mittelalter zu denken, die beim Überqueren der Alpen die Vorhänge
schlossen, weil sie den Anblick der Berge als hässlich und vom Teufel
besessen empfanden.
HE: Du hast jetzt von der Genese des konkreten Videos erzählt, aber
kannst du in diesem Bezug auf Traditionell-Ländliches allgemein ein für
die zeitgenössische Kunst fruchtbares Phänomen erkennen?
RG: Ich sehe zwischen religiösen Artefakten, traditionell-ländlichen Dingen,
moderner Kunst, Kitsch und der Konsumware aus China oder Cupertino,
Kalifornien, eigentlich keinen Unterschied. Ich finde alles interessant,
was aber nicht heißt, dass ich alles konsumieren, haben oder sammeln
muss. Jedes Objekt hat seine Produktions- und Verwendungsgeschichte
und ist informativ im Zusammenhang diverser Kontexte, in denen ein Objekt
zirkuliert, benutzt und tradiert wird. Derzeit schätze ich auch alpine
und ländliche Objekte und bin fasziniert von anachronistischen (Reproduktions-)
Techniken wie etwa 16-mm-Film, Silbergelatineabzügen oder Bleiglasfenstertechniken.
Deshalb habe ich als zeitgenössischer Künstler keine
Angst, mir da in den Alpen Holzsplitter einzuziehen. Derzeit arbeite ich
an zwei Ausstellungen, die in ehemaligen Kirchen stattfinden – ohne dabei
nervös zu werden. Im Gegenteil, der Kontext wird zusätzlich durch den Ort
bereichert und inspiriert mich zu dieser vorher zitierten PMF Altarskulptur.
In New York City verwendet man solche ehemaligen Orte der religiösen
Andacht für Diskotheken, Clubs und Einkaufszentren, was interessante
Vergleiche eröffnet. In Europa werden diese „entweihten Orte“ vorwiegend
der Kunst und der Kulturvermittlung überlassen. Die strukturellen Analogien
zwischen Lesen, Beten, Shopping, Dancing, Clubbing, Psychotherapie,
Glaube, Drogen, Sex und Kunst sind faszinierend und wissenswert. Die
Papstfunktion wird in allen Kontexten genauso erfüllt und anerkannt wie
die der Relikte und Devotionalien. Häresien, die mich noch mehr beeindrucken,
finden sich ebenfalls überall. Ich versuche wenig zu hierarchisieren,
obwohl mir die Unterschiede der Logik der Dinge nicht entgehen, die ja
16 17
turvermittlung überlassen. Die strukturellen Analogien zwischen Lesen,
Beten, Shopping, Dancing, Clubbing, Psychotherapie, Glaube, Drogen,
Sex und Kunst sind faszinierend und wissenswert. Die Papstfunktion
wird in allen Kontexten genauso erfüllt und anerkannt wie die der Relikte
und Devotionalien. Häresien, die mich noch mehr beeindrucken, finden
sich ebenfalls überall. Ich versuche wenig zu hierarchisieren, obwohl
mir die Unterschiede der Logik der Dinge nicht entgehen, die ja immer
gesellschaftlicher, ökonomischer und politisch-ideologischer Natur sind.
Im Beichtstuhl zu sitzen, ist „mehr oder weniger“ kostenlos, 45 Minuten
Psychoanalyse allerdings gibt es nicht umsonst; einen authentischen
Warhol an die Wand zu hängen, ist aufwendiger, als eine aus Kunststoff
gepresste Madonna aufs Nachtkästchen zu stellen. Die Zusammenhänge
von Alfred Jarry, Duchamp, DADA und Artaud werden anders vermittelt
und beschrieben als das Verhältnis von Madonna und Lady Gaga. Aber
generell finde ich alles spannend, New York genauso wie das Vorarlberger
Walsertal, wo ich diesen Sommer einen ganzen Monat mit meiner
Familie verbringen möchte.
HE: Du sprichst hier die religiösen Anspielungen im Werk Jarrys an:
Ebenso wie er gegen die neue Fortschritts- und Technikgläubigkeit vorgeht
oder die romantische Liebe dem sportlichen Rekordwahn opfert,
werden auch die katholischen Dogmen und die christliche Symbolik zur
Zielscheibe von Jarrys literarischen Subversionen. Abgesehen von der
schon erwähnten Travestie der Passion Christi als Sportereignis wäre da
auch die fatale Umarmung von Mensch und Maschine als Ende des Supermanns
auf einem elektrischen Stuhl, mit einer Dornenkrone auf seinem
Haupt. Wie interpretierst du diesen blasphemischen Zug im Werk
Jarrys? Würdest du zustimmen, dass du diese Profanisierung der Christologie
eigentlich spielerisch weiterspinnst, wenn du etwa den Bogen von
der Kreuzigungsmetaphorik zu Duchamps letztem Werk Étant donnés
(1946–1966) schlägst?
RG: Ich stimme dir zu, verstehe aber nicht alles. Ich kann mir nur
schwer vorstellen, dass die eingeschworene kanonisierte, akademische
Duchamp-Rezeption sich nicht an der Neuinterpretation der Étant Donnés
als Masturbationsfilm erfreuen wird – Étant donné – Use a Bicycle
(2011) –, in dem eine Frau sich mit einem Fahrradrad befriedigt. Auch
kann ich belächelt werden, wenn ich die gleiche Arbeit aus dem Philadelphia
Museum of Art mit einem Fahrradvierteilungsschema assoziiere
und so auf die mittelalterliche Foltertechnik verweise, dabei ein feminines
erotisiertes Opfer verwende und Fahrräder statt Pferde ziehen lasimmer
gesellschaftlicher, ökonomischer und politisch-ideologischer Natur
sind. Im Beichtstuhl zu sitzen, ist „mehr oder weniger“ kostenlos, 45 Minuten
Psychoanalyse allerdings gibt es nicht umsonst; einen authentischen
Warhol an die Wand zu hängen, ist aufwendiger, als eine aus Kunststoff gepresste
Madonna aufs Nachtkästchen zu stellen. Die Zusammenhänge von
Alfred Jarry, Duchamp, DADA und Artaud werden anders vermittelt und
beschrieben als das Verhältnis von Madonna und Lady Gaga. Aber generell
finde ich alles spannend, New York genauso wie das Vorarlberger Walsertal,
wo ich diesen Sommer einen ganzen Monat mit meiner Familie verbringen
möchte.
HE: Du sprichst hier die religiösen Anspielungen im Werk Jarrys an:
Ebenso wie er gegen die neue Fortschritts- und Technikgläubigkeit vorgeht
oder die romantische Liebe dem sportlichen Rekordwahn opfert, werden
auch die katholischen Dogmen und die christliche Symbolik zur Zielscheibe
von Jarrys literarischen Subversionen. Abgesehen von der schon erwähnten
Travestie der Passion Christi als Sportereignis wäre da auch die fatale
Umarmung von Mensch und Maschine als Ende des Supermanns auf einem
elektrischen Stuhl, mit einer Dornenkrone auf seinem Haupt. Wie interpretierst
du diesen blasphemischen Zug im Werk Jarrys? Würdest du zustimmen,
dass du diese Profanisierung der Christologie eigentlich spielerisch
weiterspinnst, wenn du etwa den Bogen von der Kreuzigungsmetaphorik
zu Duchamps letztem Werk Étant donnés (1946–1966) schlägst?
RG: Ich stimme dir zu, verstehe aber nicht alles. Ich kann mir nur schwer
vorstellen, dass die eingeschworene kanonisierte, akademische Duchamp-
Rezeption sich nicht an der Neuinterpretation der Étant Donnés als Masturbationsfilm
erfreuen wird – Étant donné – Use a Bicycle (2011) –, in dem
eine Frau sich mit einem Fahrradrad befriedigt. Auch kann ich belächelt
werden, wenn ich die gleiche Arbeit aus dem Philadelphia Museum of Art
mit einem Fahrradvierteilungsschema assoziiere und so auf die mittelalterliche
Foltertechnik verweise, dabei ein feminines erotisiertes Opfer verwende
und Fahrräder statt Pferde ziehen lasse, wie das im Theaterstück Ce
qui roule (Paris, 2008) passierte. Auch könnte man mir als Mann vorwerfen,
dass ich noch nie etwas von Repräsentationspolitik und Feminismus
gehört hätte. Dem durchschnittlichen Fahrradfreund dürften mitunter solche
Radfantasien ebenfalls zu grotesk und bizarr erscheinen. Tatsächlich
ist es so, dass alle hier verwendeten Elemente Assoziationen herstellen.
Das Rad und die Masturbation verweisen sowohl auf Duchamps Schokoladenmahlwerk
als auch auf den Körper als Ort und Quelle der Befriedigung
und Freuden wie auch der Qualen und des Schmerzes. Das Christentum ist
18 19
se, wie das im Theaterstück Ce qui roule (Paris, 2008) passierte. Auch
könnte man mir als Mann vorwerfen, dass ich noch nie etwas von Repräsentationspolitik
und Feminismus gehört hätte. Dem durchschnittlichen
Fahrradfreund dürften mitunter solche Radfantasien ebenfalls zu grotesk
und bizarr erscheinen. Tatsächlich ist es so, dass alle hier verwendeten
Elemente Assoziationen herstellen. Das Rad und die Masturbation
verweisen sowohl auf Duchamps Schokoladenmahlwerk als auch auf
den Körper als Ort und Quelle der Befriedigung und Freuden wie auch
der Qualen und des Schmerzes. Das Christentum ist groß im Business
des Verwaltens, Reglementierens und Versprechens von körperlichen
und seelischen Freuden und Pein. An Blasphemie per se bin ich nicht interessiert,
jedoch an mir produktiv erscheinenden Neuinterpretationen
gegebener Dinge und Situationen. Wer nur irgendwie beobachtend und
mit Erfahrung zu denken in der Lage ist, sollte wissen, dass sich Orte,
Gegenstände und Traditionen nur durch neue, abweichende, ingeniöse
Anschauungsweisen ein Überleben sichern und nur so anschlussfähig
bleiben können. Das ist in der Liebe genauso wie in der Philosophie, der
Kirche und im Einkaufszentrum.
HE: Die Erotisierung der Maschine bzw. die Mechanisierung des
Körpers sind durchgängige Leitmotive bei Jarry ebenso wie bei Marcel
Duchamp. Würdest du deine Fahrrad-Arbeiten in der Tradition der
Junggesellenmaschine sehen, die von Jarry erfunden und später von
Duchamp mit dem Großen Glas konstruiert wird?
RG: Genau, allerdings mit den gerade angedeuteten Abweichungen
und Genderverschiebungen. Man darf nicht vergessen, dass wir mittlerweile
alle Kinder von Foucaults Techniken des Wissens und der Sexualität
sind und uns seit Kant, Hegel, Marx und Freud bewusst sein muss,
dass es keine Unmittelbarkeit gibt und sei sie noch so amourös und erotisch.
HE: Alfred Jarry begründete die Pataphysik, die Wissenschaft der
imaginären Lösungen – wohl im Bewusstsein, dass die Welterkenntnis
mit den aristotelischen Methoden der Logik und des Kausalprinzips an
ihre Grenzen gestoßen war. Im Gegensatz zur üblichen wissenschaftlichen
Tendenz zur Verallgemeinerung sollen Gesetze der Ausnahmen und
des Zufalls, des Extra-Normalen erforscht werden, um zu einer wissenschaftlichen
Welterklärung zu gelangen. Retrospektiv scheint die Pataphysik
auch wissenschaftlich an Bedeutung zu gewinnen, man denke an
die Chaostheorie, die fraktale Mathematik etc. Würdest du deine künstlerische
Methode als pataphysisch bezeichnen?
groß im Business des Verwaltens, Reglementierens und Versprechens von
körperlichen und seelischen Freuden und Pein. An Blasphemie per se bin
ich nicht interessiert, jedoch an mir produktiv erscheinenden Neuinterpretationen
gegebener Dinge und Situationen. Wer nur irgendwie beobachtend
und mit Erfahrung zu denken in der Lage ist, sollte wissen, dass sich Orte,
Gegenstände und Traditionen nur durch neue, abweichende, ingeniöse Anschauungsweisen
ein Überleben sichern und nur so anschlussfähig bleiben
können. Das ist in der Liebe genauso wie in der Philosophie, der Kirche und
im Einkaufszentrum.
HE: Die Erotisierung der Maschine bzw. die Mechanisierung des Körpers
sind durchgängige Leitmotive bei Jarry ebenso wie bei Marcel Duchamp.
Würdest du deine Fahrrad-Arbeiten in der Tradition der Junggesellenmaschine
sehen, die von Jarry erfunden und später von Duchamp mit dem
Großen Glas konstruiert wird?
RG: Genau, allerdings mit den gerade angedeuteten Abweichungen und
Genderverschiebungen. Man darf nicht vergessen, dass wir mittlerweile
alle Kinder von Foucaults Techniken des Wissens und der Sexualität sind
und uns seit Kant, Hegel, Marx und Freud bewusst sein muss, dass es keine
Unmittelbarkeit gibt und sei sie noch so amourös und erotisch.
HE: Alfred Jarry begründete die Pataphysik, die Wissenschaft der imaginären
Lösungen – wohl im Bewusstsein, dass die Welterkenntnis mit den
aristotelischen Methoden der Logik und des Kausalprinzips an ihre Grenzen
gestoßen war. Im Gegensatz zur üblichen wissenschaftlichen Tendenz
zur Verallgemeinerung sollen Gesetze der Ausnahmen und des Zufalls, des
Extra-Normalen erforscht werden, um zu einer wissenschaftlichen Welterklärung
zu gelangen. Retrospektiv scheint die Pataphysik auch wissenschaftlich
an Bedeutung zu gewinnen, man denke an die Chaostheorie, die
fraktale Mathematik etc. Würdest du deine künstlerische Methode als pataphysisch
bezeichnen?
RG: Nein. Mich hat Physik nie interessiert und Metaphysik noch weniger.
Chaostheorie ist meiner Meinung nach der Versuch, noch die letzten
Ungesetzlichkeiten zu domestizieren und stellt eigentlich genau das Gegenteil
von dem dar, was so allgemein ventiliert wird. Ich bin nicht daran
interessiert, dem Zufall und der Ausnahme das Genick zu brechen. Mich
interessiert kaum das Allgemeine, aber sehr das Konkrete. Kausalitätsketten
müssen nicht noch artifiziell mystifiziert werden, denn je genauer man
zoomt, umso komplexer wird alles. Den Zauberspruch der „imaginären Lösungen“
finde ich sympathisch, aber für mich unanwendbar und zu trottelsicher.
Mich interessieren konkrete Lösungen und wenn die nicht lieferbar
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RG: Nein. Mich hat Physik nie interessiert und Metaphysik noch weniger.
Chaostheorie ist meiner Meinung nach der Versuch, noch die letzten
Ungesetzlichkeiten zu domestizieren und stellt eigentlich genau das
Gegenteil von dem dar, was so allgemein ventiliert wird. Ich bin nicht
daran interessiert, dem Zufall und der Ausnahme das Genick zu brechen.
Mich interessiert kaum das Allgemeine, aber sehr das Konkrete.
Kausalitätsketten müssen nicht noch artifiziell mystifiziert werden,
denn je genauer man zoomt, umso komplexer wird alles. Den Zauberspruch
der „imaginären Lösungen“ finde ich sympathisch, aber für mich
unanwendbar und zu trottelsicher. Mich interessieren konkrete Lösungen
und wenn die nicht lieferbar sind, dann stimmt was an den Prämissen
nicht, die nebenbei immer im Nexus von Macht, Geld und Politik ihr
Standbein haben.
HE: Deine künstlerische Arbeit erscheint als undogmatisches, offenes
System, als permanente Produktion mit unterschiedlichsten, oftmals
anachronistischen Mitteln, mithilfe derer du lustvoll historische Fakten,
Anekdoten und poetische Projektionen verknüpfst. Arbeiten wie die
phallusförmigen Porzellanskulpturen als Hommage an Jarrys überpotente
Romanfigur Le Surmâle sind in einem betont dilettantischen Duktus
ausgeführt, der eine schelmische Leichtigkeit vermittelt. Was hältst
du von der Idee des Dilettantismus (ganz im Sinne von lateinisch delectare
„sich erfreuen“) als künstlerische Strategie? Welchen Stellenwert
nimmt bei dir grundsätzlich die Materialisierung deiner Konzepte und
Ideen ein?
RG: Mir bleibt keine andere Wahl, denn ich habe nur sogenannte
„linke Hände“ (sorry, Linkshänder), wenn ich etwas selber ausführen
möchte. Obwohl ich mich sechs Jahre lang mit der Legitimität von
Kunstakademien als sozialer und rechtlicher Buffer umgab, blieb ich allen
handwerklichen, zeichnerischen und bildhauerischen Veranstaltungen
fern. Das zog mich damals nicht im geringsten an. Heute habe ich
daran Freude. Vor etwa einem Monat griff ich auch das erste mal zu
Pinsel und Ölfarben für die Performance Painting a pighead in front of
a Giorgio Morandi und malte so gut ich konnte ein Dutzend Ölgemälde
in etwa 20 Minuten. Das hat viel Spaß gemacht. Wenn man immer
dasselbe Motiv wiederholt, wird man auch schnell besser: bis dato habe
ich mich neben ein paar Konstruktions- und Produktionszeichnungen –
etwa für den Credit Crunch – mehr oder weniger nur an Penissen, Glocken,
Duchamps Lehrling in der Sonne-Zeichnungen, und Schweinsköpfen
versucht. C’est tout.
sind, dann stimmt was an den Prämissen nicht, die nebenbei immer im Nexus
von Macht, Geld und Politik ihr Standbein haben.
HE: Deine künstlerische Arbeit erscheint als undogmatisches, offenes System,
als permanente Produktion mit unterschiedlichsten, oftmals anachronistischen
Mitteln, mithilfe derer du lustvoll historische Fakten, Anekdoten
und poetische Projektionen verknüpfst. Arbeiten wie die phallusförmigen
Porzellanskulpturen als Hommage an Jarrys überpotente Romanfigur Le
Surmâle sind in einem betont dilettantischen Duktus ausgeführt, der eine
schelmische Leichtigkeit vermittelt. Was hältst du von der Idee des Dilettantismus
(ganz im Sinne von lateinisch delectare „sich erfreuen“) als
künstlerische Strategie? Welchen Stellenwert nimmt bei dir grundsätzlich
die Materialisierung deiner Konzepte und Ideen ein?
RG: Mir bleibt keine andere Wahl, denn ich habe nur sogenannte „linke
Hände“ (sorry, Linkshänder), wenn ich etwas selber ausführen möchte.
Obwohl ich mich sechs Jahre lang mit der Legitimität von Kunstakademien
als sozialer und rechtlicher Buffer umgab, blieb ich allen handwerklichen,
zeichnerischen und bildhauerischen Veranstaltungen fern. Das zog
mich damals nicht im geringsten an. Heute habe ich daran Freude. Vor
etwa einem Monat griff ich auch das erste mal zu Pinsel und Ölfarben für
die Performance Painting a pighead in front of a Giorgio Morandi und malte
so gut ich konnte ein Dutzend Ölgemälde in etwa 20 Minuten. Das hat
viel Spaß gemacht. Wenn man immer dasselbe Motiv wiederholt, wird man
auch schnell besser: bis dato habe ich mich neben ein paar Konstruktionsund
Produktionszeichnungen – etwa für den Credit Crunch – mehr oder
weniger nur an Penissen, Glocken, Duchamps Lehrling in der Sonne-Zeichnungen,
und Schweinsköpfen versucht. C’est tout.
Der Unterschied von Konzepten und Ideen, der hinter meiner Arbeit
steckt, ist mir nicht so ganz klar. Bis dato hat man mir – bis auf eine kleine
Ausnahme mit einem Schriftzug – noch keine Kunst-am-Bau-Arbeit zugetraut.
Auch lässt mich niemand eine tolle Riesenskulptur am Karlsplatz
hinbauen, wozu ich Lust hätte. Die Realisierung des AJ-Bikes als bewegliches
Monument für Alfred Jarry ist eher eine Ausnahme, genauso wie das
aus vier Damenfahrrädern zusammengeschweißte Fahrradgestell für die
Arbeit Étant donné – Bicycle machine for Haflinger (Alpine horses) (2008).
Solche für mich zu komplizierten Objekte muss ich anfertigen lassen und
mache das auch sehr gerne – allerdings zu ungunsten meiner Finanzen,
denn leider überziehe ich in den meisten Fällen meine Produktionsbudgets
und bleibe dann alleine – wie Alfred Jarry – auf Schulden sitzen, was auch
mit unserer Ausstellung hier in Wien passiert ist. Dabei komme ich mir vor
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Der Unterschied von Konzepten und Ideen, der hinter meiner Arbeit
steckt, ist mir nicht so ganz klar. Bis dato hat man mir – bis auf eine kleine
Ausnahme mit einem Schriftzug – noch keine Kunst-am-Bau-Arbeit
zugetraut. Auch lässt mich niemand eine tolle Riesenskulptur am Karlsplatz
hinbauen, wozu ich Lust hätte. Die Realisierung des AJ-Bikes als
bewegliches Monument für Alfred Jarry ist eher eine Ausnahme, genauso
wie das aus vier Damenfahrrädern zusammengeschweißte Fahrradgestell
für die Arbeit Étant donné – Bicycle machine for Haflinger (Alpine
horses) (2008). Solche für mich zu komplizierten Objekte muss ich
anfertigen lassen und mache das auch sehr gerne – allerdings zu ungunsten
meiner Finanzen, denn leider überziehe ich in den meisten Fällen
meine Produktionsbudgets und bleibe dann alleine – wie Alfred Jarry
– auf Schulden sitzen, was auch mit unserer Ausstellung hier in Wien
passiert ist. Dabei komme ich mir vor wie der Lehrling in der Sonne, also
als Luftfahrer, aber das gehört anderswo diskutiert.
HE: Du unternimmst die Zeitreise in die Ära der Fahrradpionierzeit
im auslaufenden 19. Jahrhundert, als das Fahrrad zum Meilenstein für
die Mobilität der Massen, für die Dynamisierung des Lebens, der Geschlechter
und der Klassen avancierte. Inwieweit dient dir die Rückschau
in die Ära Jarrys und die Anfänge der Avantgarden dazu, das
aktuelle Potenzial des Fahrrads auszuloten? Worin liegt der utopische
Gehalt des Fahrrads heute?
RG: Es ist vielleicht weniger das Fahrrad selbst, sondern der Einsatz des
Fahrrads und die Infrastruktur um das Fahrrad herum sind es, die noch
viel an utopischem Potenzial einzuklagen haben. Die heutigen Städte sind
mehr oder weniger alle nach den Ansprüchen des Autoverkehrs gestaltet.
Das sollte revidiert werden und es gilt, die Parität von Fahrrad und Auto in
der Aufteilung der Straßenflächen anzustreben, was ja in meinem Fahrrad-
Manifest (2011) – www.bicyclemanifesto.info – nachdrücklich gefordert
wird.
Nun, Alfred Jarry ist eine sehr bemerkenswerte Figur, die trotz ihrer
anerkannten Wichtigkeit im Theater, in der Kunstgeschichte noch
nicht den verdienten Stellenwert eingenommen hat. Duchamps Bezüge
auf Jarry sind sehr aufschlussreich, aber kaum einem breiteren
Publikum bekannt. Sehr viele seiner konzeptuellen Ansätze finden
sich bei Jarry bereits klar ausformuliert. Sei das nun die Genderambivalenz,
die (Pata)physik, die ja bei Duchamp immer Jarry’sche Züge
hat, etwa seine 3 Standard Stoppages (1913–14), die von mir aufgegriffenen
Étant donnés-Arbeiten, das Fahrrad, die Maschinenlowie
der Lehrling in der Sonne, also als Luftfahrer, aber das gehört anderswo
diskutiert.
HE: Du unternimmst die Zeitreise in die Ära der Fahrradpionierzeit im
auslaufenden 19. Jahrhundert, als das Fahrrad zum Meilenstein für die
Mobilität der Massen, für die Dynamisierung des Lebens, der Geschlechter
und der Klassen avancierte. Inwieweit dient dir die Rückschau in die Ära
Jarrys und die Anfänge der Avantgarden dazu, das aktuelle Potenzial des
Fahrrads auszuloten? Worin liegt der utopische Gehalt des Fahrrads heute?
RG: Es ist vielleicht weniger das Fahrrad selbst, sondern der Einsatz des
Fahrrads und die Infrastruktur um das Fahrrad herum sind es, die noch
viel an utopischem Potenzial einzuklagen haben. Die heutigen Städte sind
mehr oder weniger alle nach den Ansprüchen des Autoverkehrs gestaltet.
Das sollte revidiert werden und es gilt, die Parität von Fahrrad und Auto in
der Aufteilung der Straßenflächen anzustreben, was ja in meinem Fahrrad-
Manifest (2011) – www.bicyclemanifesto.info – nachdrücklich gefordert wird.
Nun, Alfred Jarry ist eine sehr bemerkenswerte Figur, die trotz ihrer
anerkannten Wichtigkeit im Theater, in der Kunstgeschichte noch nicht
den verdienten Stellenwert eingenommen hat. Duchamps Bezüge auf Jarry
sind sehr aufschlussreich, aber kaum einem breiteren Publikum bekannt.
Sehr viele seiner konzeptuellen Ansätze finden sich bei Jarry bereits klar
ausformuliert. Sei das nun die Genderambivalenz, die (Pata)physik, die ja
bei Duchamp immer Jarry’sche Züge hat, etwa seine 3 Standard Stoppages
(1913–14), die von mir aufgegriffenen Étant donnés-Arbeiten, das Fahrrad,
die Maschinenlogik, das Belle Haleine: Eau de Voilette (Beautiful Breath:
Veil Water) (1921), das an das „PMF“ erinnert – all das und noch viel mehr ist
Teil eines Einflussbereiches, der nicht nur mich heute noch interessiert. Fest
steht, dass die Bedeutung des Fahrrads in all den von dir angedeuteten Dimensionen
uns heute schon lange nicht mehr bewusst ist. Wir sind verwundert,
überlegen uns allerdings recht wenig, wenn bei Duchamp wie auch bei vielen
anderen Künstlern Fahrräder und andere primitive Maschinen in der künstlerischen
Produktion auftauchen – also alles Dinge, die Jarry in seinen laufend
veröffentlichten Schriften einer damals von ihm faszinierten offenen Künstlerschaft
hinterließ, die dabei war, dem Ersten Weltkrieg entgegenzueifern.
Paris war damals das Epizentrum der Moderne. Jarry frequentierte dort
die wichtigsten Salons der Literaturszene, wo seine Schriften veröffentlicht,
gelesen, diskutiert und mit dem Mythos seiner delirierenden, selbstvergessen
Person umsponnen wurden, einer tragisch-komischen, skurril-ideosynkratischen
Person, die 1907 mit 34 Jahren viel zu früh der Kunstszene wegen
Unterernährung, Alkohol- und Drogenkonsum entrissen wurde.
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gik, das Belle Haleine: Eau de Voilette (Beautiful Breath: Veil Water)
(1921), das an das „PMF“ erinnert – all das und noch viel mehr ist
Teil eines Einflussbereiches, der nicht nur mich heute noch interessiert. Fest
steht, dass die Bedeutung des Fahrrads in all den von dir angedeuteten
Dimensionen uns heute schon lange nicht mehr bewusst ist. Wir sind
verwundert, überlegen uns allerdings recht wenig, wenn bei Duchamp
wie auch bei vielen anderen Künstlern Fahrräder und andere primitive
Maschinen in der künstlerischen Produktion auftauchen – also alles
Dinge, die Jarry in seinen laufend veröffentlichten Schriften einer damals
von ihm faszinierten offenen Künstlerschaft hinterließ, die dabei
war, dem Ersten Weltkrieg entgegenzueifern. Paris war damals das Epizentrum
der Moderne. Jarry frequentierte dort die wichtigsten Salons
der Literaturszene, wo seine Schriften veröffentlicht, gelesen, diskutiert
und mit dem Mythos seiner delirierenden, selbstvergessen Person umsponnen
wurden, einer tragisch-komischen, skurril-ideosynkratischen
Person, die 1907 mit 34 Jahren viel zu früh der Kunstszene wegen Unterernährung,
Alkohol- und Drogenkonsum entrissen wurde.
HE: Mit deinem eben erwähnten hoch aktuellen Fahrrad-Manifest
(2011), in dem du unter anderem die Umwidmung von 50 Prozent aller
Straßen in Fahrradwege forderst, rekurrierst du auf die avantgardistische
Diskursform par excellence. Du etablierst damit einen Aktivismus,
der die avantgardistische Forderung nach einer Veränderung der Lebenspraxis
durch Kunst in Erinnerung ruft – frei nach dem Motto „pratiquer
la poésie“, wie es im ersten surrealistischen Manifest von André
Breton heißt. Charakteristisch für die avantgardistischen Manifeste war
jedoch, dass imaginärer Raum und politische Wirklichkeit zumeist getrennt
blieben. In welchem Verhältnis stehen bei dir politischer Aktivismus
und künstlerische Manifestation?
RG: Zuerst möchte ich kurz nur auf den kleinen, aber entscheidenden
Unterschied aufmerksam machen, dass ich keine Fahrradwege
fordere, die man den Fußgängern wegschnappt oder irgendwo
dazu baut, sondern Bikeways, die zu 50 Prozent von den bereits existierenden
Straßenflächen kommen müssen. Die Stadtstraßen sollen
bis auf wenige Ausnahmen in der Mitte geteilt und dem Fahrrad
oder E-Fahrradverkehr überlassen und durch eine Trennfläche markiert
werden. Erst wenn die Leute verstehen, dass das Fahrradfahren
im Stadtraum so gesichert und dadurch auch propagiert wird,
werden die Leute im großen Stil auf das Rad zurückgreifen und
die Radrevolution wird ausbrechen. Die-
HE: Mit deinem eben erwähnten hoch aktuellen Fahrrad-Manifest (2011),
in dem du unter anderem die Umwidmung von 50 Prozent aller Straßen in
Fahrradwege forderst, rekurrierst du auf die avantgardistische Diskursform
par excellence. Du etablierst damit einen Aktivismus, der die avantgardistische
Forderung nach einer Veränderung der Lebenspraxis durch
Kunst in Erinnerung ruft – frei nach dem Motto „pratiquer la poésie“, wie es
im ersten surrealistischen Manifest von André Breton heißt. Charakteristisch
für die avantgardistischen Manifeste war jedoch, dass imaginärer Raum
und politische Wirklichkeit zumeist getrennt blieben. In welchem Verhältnis
stehen bei dir politischer Aktivismus und künstlerische Manifestation?
RG: Zuerst möchte ich kurz nur auf den kleinen, aber entscheidenden
Unterschied aufmerksam machen, dass ich keine Fahrradwege fordere, die
man den Fußgängern wegschnappt oder irgendwo dazu baut, sondern Bikeways,
die zu 50 Prozent von den bereits existierenden Straßenflächen kommen
müssen. Die Stadtstraßen sollen bis auf wenige Ausnahmen in der Mitte
geteilt und dem Fahrrad oder E-Fahrradverkehr überlassen und durch
eine Trennfläche markiert werden. Erst wenn die Leute verstehen, dass
das Fahrradfahren im Stadtraum so gesichert und dadurch auch propagiert
wird, werden die Leute im großen Stil auf das Rad zurückgreifen und
die Radrevolution wird ausbrechen. Diese notwendige und als fahrradfreundlich
ausgewiesene Infrastruktur soll im Verbund mit einem Straßenverkehr
einhergehen, der komplizierter und teurer wird, sodass das Angebot Fahrrad
auch weithin und durch alle Alters- und Sozialklassen genutzt wird.
Im Gegensatz zu den futuristischen Manifesten rufe ich nicht zu Aggressionen
oder Kriegen auf, stelle auch keine absurden Forderungen, sondern
bestehe bestenfalls auf dem, was sowieso unvermeidlich ist. Meine Wunschliste
entstammt keinem imaginären Künstlermenü, das ich irgendwie zusammenbrate,
sondern besteht aus klar erfüllbaren Vorstellungen, die mit
der Technologie (E-Mobility für ältere Menschen) und den Verkehrs- und
Nachhaltigkeitstrends der Zeit schon in der Luft hängen. Dazu nütze ich
meine zeitlich und räumlich limitierte Visibilität als Künstler und formuliere
etwas, das jeder engagierte Bürger zu tun in der Lage ist. Ich verstehe
mich weder als Aktivist noch als künstlerischer Visionär, sondern als
Bürger, als Fahrradfahrer, als Stadtmensch, der sich ab und zu aufgrund
seiner Arbeit als ausstellender Künstler in die Nähe von Politikern und
mitentscheidenden Urbanisten stellen darf und hie und da noch um seine
Meinung gefragt wird. Auch hilft das Internet, wo jeder zum Blogger werden
kann. Mein Fahrrad-Manifest kann unter www.bicyclemanifesto.info
aufgerufen werden.
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