I. DAS KLIMA DES ABSURDEN
Im vergangenen
Sommer hat mich die Studentengruppe Perabsurdum zu einer Ausstellung und einer
Vortragsreihe zum Absurden von Albert Camus an die UniversitŠt Heidelberg
eingeladen. Das interessierte mich, weil ich mit Camus einiges verbinde. Camus
wurde uns MittelschŸlern schon in der Schule vorgestellt. Mir jedoch hatten
diese Texte so gut zugesagt, dass ich de facto jede dritte Woche ein neues
BŸchlein von ihm bestellte. Der Fremde, die Pest und andere mehr philosophische
Texte machten auf mich als Teenager einen besonderen Eindruck und der Grad der
Identifikation war hoch. Es schien mir, als hŠtte mein Leben durch diesen Autor
und sein franzšsisches Cool eine neue QualitŠt erreicht. Deshalb konnte ich
auch den Enthusiasmus dieser Heidelberger Camus Gruppe verstehen, die ohne
gro§e Mittel dieses Symposium organisierte.
WŠhrend meines
nicht abgeschlossenen Romanistikstudiums legte sich mein Interesse an Camus wie
eine Jugendliebe, die man einfach irgendwann vergisst, bzw. gegen eine neue
eintauscht. Mehr als zehn Jahre spŠter stie§ ich wieder auf Camus aber dieses
mal durch einen Autor, der mir wiederum mein Leben wesentlich und anhaltend
verŠnderte: Edward Said, der durch sein Buch Orientalism in der ganzen Welt berŸhmt und hauptverantwortlich
wurde, dass Post-Colonial Studies in die UniversitŠten um die ganze Welt
einzogen und sich interdisziplinŠr auf alle Geisteswissenschaften auswirkten,
veršffentlichte Culture and Imperialism, wo ein Kapitel Camus widmete. Kaum ein Autor
hat solch einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Literatur, Geschichte, Kunst
und Politik bewirkt wie Said. Er zeigte auf, wie politische, militŠrische und
koloniale VerhŠltnisse sich in akademischen und institutionellen Apparaten
widerspiegeln und kulturelle Produktionen beeinflussen. Es sind gerade die durch die imperiale Politik und deren neue RealitŠten notwendig
gewordenen Studien von nicht-europŠischen Kulturen, die mithalfen, eine
westliche Vorherrschaft zu zementieren und zu rechtfertigen. Wie der
Anti-Seminitismus sich subtil in alle Bereiche der Wahrnehmung und des
šffentlichen Ausdrucks einnistete, so sind auch kulturelle und rassistische
Vorurteilsstrukturen konstruiert, geschaffen und nur hartnŠckig zu erkennen
oder gar zu vertreiben.
In akribischer
Arbeit verfolgt Said, was fŸr Konsequenzen z. B. Napoleons Eroberung von
€gypten in der Hauptstadt Paris, ihren Institutionen und in ihren
Ausdrucksforen hinterlie§en. Das institutionalisierte Lernen und Studieren war
genauso davon betroffen, wie die Vorstellungswelten, die sich
kommerzialisierten oder in Literatur und Malerei sich mit oder ohne Erfolg
durchschlugen. Wie schon etwas vor Said Foucault die Geschichte von Wahnsinn und
IrrationalitŠt an seinem Gegenteil rekonstruiert, zeichnet Edward Said, dessen
Seminar ich noch als freier Hšrer in New York besuchen konnte,
In seinem Buch Cultur
and Imperialism geht
Edward Said im Kapitel Camus und die Wirklichkeit des franzšsischen
Imperialismus auch auf
den Fall Camus ein. Der Abschnitt beginnt mit der AttitŸde, mit der Frankreichs
Kolonialpolitik ãdes GeniesÒ – die der EnglŠnder war ãministeriellÒ - die
Expansion des franzšsischen Kolonialreichs in der zweiten HŠlfte des 19.
Jahrhunderts betrieb, begleitet vom Ausbau von geographischen Gesellschaften
und Instituten zum Studium der eroberten Welten. Die Wichtigkeit von Geographie
als Wissenschaft unterstreicht ein Zitat von 1875, das von einer Konferenzrede
vor Frankreichs wichtigsten Politikern stammt: ãMeine Herren, die Vorsehung hat uns die Verpflichtung auferlegt, die
Erde kennenzulernen und sie zu erobern. Dieser oberste Auftrag ist eine der
gebieterischen Pflichten, die unsere Intelligenz und unseren AktivitŠten
aufgebŸrdet sind. Die Geographie, jene Wissenschaft, die diese schšne Hingabe
inspiriert und in deren Namen so viele Opfer dargebracht worden sind, ist zur
Philosophie des Erdballs gewordenÒ (Edward Said, Kultur und Imperialismus, p 236).
Die Kolonialassimilation ging einher mit bizarren Studien zur
Rassenpsychologie, was immer dann mitschwingt, wenn von ãIntelligenzÒ die Rede ist. Diese Intelligenz bŸrdete den Franzosen eine ãZivilisationsmissionÒ auf, der gerne mit Opfern nachgegeben wird. Es wird ergŠnzend hinzugefŸgt, dass diese Unternehmen nicht durch Einladung zu ãhierarchischen PartnerschaftenÒ gefŸhrt hŠtten, sondern einer ãultima ratioÒ zu verdanken seien, die sich Gewalt nannte.
Der Zivilisationsauftrag diente den Franzosen als wichtigste Rechtfertigung fŸr
ihre Kolonisationsarbeit.
Camus wŠchst also
in einem kolonialen Kontext auf, den HÕsen Derdour – ein algerischer
Historiker - ein
ãKonzentrationslagerÒ fŸr Algerier bezeichnete. Said beschreibt Camus als
ãspŠte imperiale Gestalt, die nicht nur die HochblŸte des Imperiums Ÿberlebte,
sondern auch jetzt noch als âuniversalistischerÕ Schriftsteller mit Wurzeln in
einem heute vergessenen Kolonialismus Ÿberlebt.Ò (ebd. p. 239). Er fŠhrt fort,
ihn mit George Orwell zu vergleichen, der ebenfalls im Zusammenhang mit den
Problemen der 30iger und 40iger Jahre des 20. Jahrhunderts gelesen werden
mŸsste, es aber nicht wird. Beide Autoren sind ãin ihren jeweiligen Kulturen
beispielhafte Figuren geworden ..., deren Bedeutung aus ihrem heimischen
Kontext erwŠchst, ihn jedoch zu transzendieren scheint.Ò (p. 240). Said wirft
Camus jedoch nicht einfach Blindheit gegenŸber den Abscheulichkeiten der
kolonialen Herrschaft Frankreichs vor und zitiert auch seine bekannten Vorkriegsberichte,
die er als âmoralische Person in einer immoralischen SituationÒ (p. 242)
verfasst hat. Er fragt sich jedoch, warum Camus in seinen Romanen LÕEtranger (1942) und La Peste (1947) algerische SchauplŠtze verwendet hat,
obwohl die Hauptreferenzen als das Frankreich unter der Nazi-Besatzung zu
deuten waren. Said vermutet darin eine ãverstohlene oder unbewusste
Rechtfertigung der franzšsischen Herrschaft oder ein ideologisches Manšver zu
ihrer VerbrŠmungÒ (p 242).
Said plŠdiert,
dass CamusÕ Werke mit der Literatur jener Zeit verglichen werden, die nach der
UnabhŠngigkeit geschrieben wurden und von Leuten stammen, die das franzšsische
Kolonialreich nicht akzeptierten. ã Eine korrelative Interpretation von CamusÕ
Romanen liefe also darauf hinaus, sie als Eingriffe in die Geschichte der
franzšsischen Anstrengungen aufzufasssen, Algerien franzšsisch zu machen und zu
erhalten, und nicht als Romane, die etwas Ÿber den Geiste und Seelenzustand des
Autors verraten. ... Diese algerische Perspektive kann verborgene Aspekte
entbinden und freilegen, die von Camus fŸr selbstverstŠndlich erachtet oder
geleugnet wurden.Ò (p. 243). Said teilt die †berzeugung, dass diese Romane ãals
Parabeln der condition humaineÒ gelesen werden, in dem Araber wie Statisten behandelt werden: ãMeursault
tštet einen Araber, aber dieser Araber ist namenlos und scheint ohne Geschichte
zu sein, gar nicht zu reden von Vater und Mutter, ebenso sicher ist, in Oran
sterben Araber an der Pest, doch sie tragen keine Namen, wŠhrend Rieux und
Tarrou in die Handlung geradezu hineingesto§en werden.Ò Said fŠhrt fort: ãIch
harre jedoch darauf, dass sich in CamusÕ Romanen gerade das findet, wovon sie,
wie man einst annahm, gereinigt worden seien – Details Ÿber jene so ganz
andere, 1830 begonnnene franzšsische imperiale Eroberung, die sich zu CamusÕ
Lebzeiten fortsetzte und sich in die Komposition der Texte hinein projiziert.Ò.
(p 244)
Edward Said sieht
darin jedoch keine ãRachesuchtÒ und will auch keine ãSchuldÒ zuschreiben,
obwohl sich Camus šffentlich vehement gegen die UnabhŠngigkeit Algeriens von
Frankreich ausgesprochen hat, die er nur als reine Passion denunzierte, also
unfŠhig einer rationalen, staatstragenden Entscheidung: ãEn ce qui concerne
lÕAlgŽrie, lÕindŽpendance nationale est une formule purement passionelle. Il
nÕa jamais eu encore de nation algŽrienne.Ò (ãSo wohlwollend man den arabischen
AnsprŸchen auch gegenŸberstehen mag, so muss man doch zugeben, dass im Falle
Algeriens die nationale UnabhŠngigkeit ein rein von der Leidenschaft bedingtes Schlagwort
ist. Es hat noch nie eine algerische Nation gegeben.Ò) (p. 248) Um die Franzosen in Algerien als
ãEingeboreneÒ zu definieren und zu
verankern, bedient sich Camus auch demselben Topos, der schon Napoleon
Bonaparte bei der Eroberung von €gypten behilflich war, wo dieser anscheinend
sich selbst als der ãwirkliche MuslimeÒ ausgegeben hatte: ãLes Franais
dÕAlgŽrie sont, eux aussi, et au sens fort du terme, des indignes.Ò (ãDie
Algerierfranzosen sind ebenfalls, und zwar im buchstŠblichen Sinne des Wortes,
Eingeborene.Ò) (p. 248) Es verwundert nicht, dass Camus wie das damalige
Frankreich dem Algerien ohne Franzosen keine škonomische SelbststŠndigkeit
zutraute, obwohl jeder heute wei§, was die wirtschaftlichen, marktspezifischen
und internationalen Voraussetzungen von škonomischer UnabhŠngigkeit sind.
Solche Annahmen sind heute kaum mehr nachvollziehbar und sind Teil eines ãKlima des AbsurdenÒ (Sartre), das vom franzšsischen Au§enminister Chautemps noch gesteigert wurde, indem er 1938 Arabisch in Algerien zur ãFremdspracheÒ erklŠrte. (p. 249) Das Absurde ist kein ãmetaphysischer Zustand,Ò (Camus) sondern das Resultat einer brutalen Kolonialgeschichte, die Entfremdung, Ausbeutung, systematische Landenteignung, Gewalt und eine Politik des Genozids als mission civilisatrice, als Zivilisationsauftrag aufzwingt. Said zitiert hier u. a. Offiziere, die die quasi-aleatorischen ãRazziaÒ und BestrafungsstreifzŸge gegen algerische Dšrfer, ihre Menschen, HŠuser und GŸter priesen und einen ãÕguerre ˆ outrance,Õ ein Krieg der †bertreibung jenseits aller Moral oder NotwendigkeitÒ als ãangenehme ZerstreuungÒ (p 251) praktizierten: ãDie Araber ... mŸssen davon abgehalten werden, zu sŠen, zu ernten und ihre Herden zu weiden.Ò Auf gut Franzšsisch: ãLes Arabes ne comprennent que la force brutaleÒ - ãDie Araber verstehen nur die brutale GewaltÒ (p. 251). In der Sprache der im 19. Jahrhundert florierenden Rassentheorien spricht ein Albert Sarrauts in seinem Buch ãGrandeur et servitude colonialesÒ von Rassen, ãdie unfŠhig sind, ihre Ressourcen zu nutzenÒ und deshalb den Kolonisator noch im Akt der brutalen PlŸnderung zum Schšpfer der ãMenschenrechteÒ und ãZivilisationÒ macht. (p.252)
Saids Anliegen
besteht darin, ãCamusÕ Literatur als Element der franzšsischen, methodisch
konstruierten politischen Geographie Algeriens zu begreifen, deren
VervollstŠndigung viele Generationen in Anspruch nahmen. ... dabei nŠhere ich
mich ihr bewusst unter dem Gesichtspunkt, dass sie einen fesselnden Bericht
Ÿber den politischen und interpretativen Wettstreit liefert, das Territorium
selbst zu reprŠsentieren, in Besitz zu nehmen und zu bewohnen.Ò (p. 244) Es geht Said um die Entzifferung dieser
Dispositive, auf denen asymmetrische, eurozentrische und rassistische Anschauungsweisen
und Vorurteilsstrukturen aufbauen und in vielen FŠllen unbemerkt tradiert
werden. Freud verankert solche
FŠlle oft im (kulturellen) Unbewussten und Foucault spricht von
unterschwelligen und vorgefundenen Diskursen, in denen unser Wissen und unsere
Wahrheiten erzeugt und verankert werden, unterstŸtzt durch sie tragende
administrative Institutionen, Mechanismen und Apparaten. Heute sind es die
Postkolonialen Studien, die sich u. a. zum Ziel setzen, die Effekte von Imperialismus und Kolonialismus auf die
gesamte Wissens- und Literaturproduktion einer Epoche zu untersuchen.
Mit diesem
Anspruch versucht Said im Culture and Imperialsm Buch CamusÕ ãvorrangige AnsprŸche auf die
Geographie AlgeriensÒ (p. 251) aufzuspŸren und zu isolieren. Wenn Said bei Camus
fŸndig wird und die ãTraditionen, Idiome und diskursiven Strategien der
Aneignung Algeriens durch FrankreichÒ (p. 254) analysiert, dann sieht er darin nicht den
literarischen Wert des Werkes CamusÕ reduziert: ãGerade weil CamusÕs berŸhmteste literarische Werke einen dichten
franzšsischen Diskurs Ÿber Algerien bezeugen, ihn unnachgiebig wiederholen und
in vieler Hinsicht von ihm abhŠngen, einen Diskurs, der zum Ensemble
franzšsischer imperialer Einstellungen und geographischer Referenz gehšrt, ist sein
Werk mehr und nicht
weniger aufschlussreich. Sein klarer Stil, die peinigenden moralischen
Dilemmata, die er freilegt, die qualvollen persšnlichen Schicksale seiner
Gestalten, die er mit gro§er Feinheit und gemŠ§igter Ironie vorstellt –
das alles lŠsst die franzšsische Herrschaft in Algerien sichtbar werden, ja
sogar wiederaufleben, mit bedachtsamer PrŠzision und einem bemerkenswerten
Mangel an schlechtem Gewissen oder MitgefŸhl.Ò (p 250). Said geht auf den Fremden noch genauer ein, dessen Meursault wegen
sinnlosem Mord an einem namenlosen Araber vor Gericht gestellt wird, also an
einem Ort, an dem kein Franzose im kolonialen Algerien wegen einem Arabermord
angeklagt worden wŠre.
Wenn von Camus
und AbsurditŠt die Rede ist, denke ich nicht nur an Edwards Saids Analyse,
sondern auch an das absurde Faktum, wie defensiv und ignorant die traditionelle
Camus- und Existentialismusexegese gegenŸber diesen postkolonialen Diskursen
sich verhŠlt. Leider werden in Europe au§erhalb der Postcolonial Studies diese
ZusammenhŠnge immer noch nicht akzeptiert, wo wichtige Autoren wie Frantz Fanon
in Frankreich mehr oder weniger ungelesen bleiben. In einem Interview von 1996
mit mir in New York erklŠrte selbst Julia Kristeva, dass sie Fanon nicht kannte (Rainer Ganahl – Julia Kristeva, Revolt
and Revolution, in: Julia
Kristeva, Revolt, She Said, Foreign
Agents, New York 2002). Frantz Fanon arbeitete wŠhrend des
Algerienkrieges als Psychiater in franzšsischen KrankenhŠusern in Algerien und
hat die direkten Auswirkungen von Mord, Folter und Krieg sowohl an den Opfern
wie auch an den TŠtern beobachtet, behandelt und beschrieben. In Les damnŽs
de la terre von Fanon
findet sich ein Kapital Ÿber mentale Stšrungen im Krieg, wo tragische aber
sogleich typische FŠlle von posttraumatischen Symptomen beschrieben werden, die
an UnerklŠrlichkeit, IrrationalitŠt, Entfremdung und mšrderischer BrutalitŠt
– also an reiner AbsurditŠt – kaum Vergleichbares finden. Das
Absurde ist kein metaphysisches oder philosophisches Problem, sondern die Mischung
aus Arroganz, WillkŸrlichkeit, Gewalt und profitsŸchtiger
Interessensdurchsetzung in Kontexten, wo feindselige Akteure nichts zu suchen
haben.
Absurd war auch,
dass die BŸcher von Fanon in Frankreich erst in den letzten zehn Jahren wieder
aufgelegt wurden und fŸr Ÿber zwei Jahrzehnte nur schwer zu finden waren. Das
deutsche Verlagswesen verhielt sich mit Frantz Fanon bis in die 1990iger Jahre
nicht viel anders. Ich war deshalb auch nicht verwundert, dass die heidelberger
Studentengruppe Perabsurdum, Said, Frantz Fanon, AimŽ CŽsaire und etliche
andere Autoren der Dekollonisation nicht nur nicht kannten, sondern sich gegen
deren Analysen wehrten und sie mit deren Camus-Identifikation nicht versšhnen
wollen. Hier mšchte ich noch hinzufŸgen, dass Jean-Paul Sartre im Zusammenhang
mit Algerien eine von Camus diametral entgegengesetzte Position eingenommen hat
und sich auf der Seite von Frantz Fanon fŸr die UnabhŠngigkeit Algeriens
aussprach. Es war Sartre, der die Einleitung zu Die Verdammten der Erde geschrieben hatte.
Was die
Existenzialismusmode (und die Faszination fŸr den Strukturalismus) der
Nachkriegsjahre auch au§erhalb Frankreichs noch beflŸgelte, war der Attraktion
all jener traumatisierten Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als TŠter
noch Ÿberlebten. Auch ihnen war die Rede von metaphysischer Entfremdung und
AbsurditŠt ein Balsam fŸr ein Gewissen, dessen Unbehagen sich nicht so einfach
in die kollektiven MŸllhalden der Schuld entsorgen lie§. Sich als namenloser
anonymisierter MittŠter in den Strukturen des Faschismus als absurdes,
geworfenes Ding zu reflektieren, dass zwischen Sein und Zeit und Das Sein und das Nichts oszillierte, nachdem es den Wahnsinn des
Naziregims und dessen Niedergang in den Alliiertenbombardements Ÿberlebt hatte,
war mit den PrŠmissen des Existentialismus gut vereinbar. Allerdings sollte man
heute in der Lage sein, historische Kontexte angemessen in der Literatur- und
Philosophierezeption zu berŸcksichtigen. Die Zeit der blinden Flecken gegenŸber
kolonialen, militŠrischen, škonomischen, sozialen, politischen, und kulturelle
Macht- und Vorherrschaftskonstellationen muss zu Ende gehen. Das zu belŠcheln
oder abzulehnen ist das wahre Absurde.
II. DAS ABSURDE UNTER DER SONNE
Albert Camus,
L'Etranger / The Stranger, 1958 / 2011 ist ein Video, dass ich anlŠsslich der Verhaftung
von Domique Strauss-Kahn, dem damaligen Direktor des Internationalen
WŠhrungsfonds (IWF) am 14. Mai 2011 in New York gemacht habe. Dem 62ig jŠhrigen
Strauss-Kahn wurde vorgeworfen, die 32 jŠhrige Hotelbedienstete Nafissatou
Diallo vergewaltigt zu haben. Strauss-Kahns Sperma wurde an den Kleidern von
Diallo nachgewiesen. Die Strauss-Kahn Verteidigung bestand in der Behauptung,
es hŠtte sich um Sex mit beiderseitigem EinverstŠndnis gehandelt. WŠhrend der
Prozesszeit wurde dem vorerst verhaftetem Strauss-Kahn erlaubt, gegen eine
Million Dollar Kaution sich in einem Privathaus in Tribeca, 153 Franklin
Street, unter Hausarrest aufzuhalten. Die Miete kostete 50.000 $ und die
Polizeibewachung und Sicherheit 200.000 $ monatlich. (http://www.huffingtonpost.com/2011/05/26/dominique-strausskahn-mov_n_867340.html).
Strauss-Kahn hatte eine schlechte Reputation im Umgang mit Frauen und war bereits in Prozesse wegen sexueller BelŠstigung involviert. Auch gibt es diverse
FŠlle, wo dem ãgrand sŽducteur,Ò dem ãgro§en VerfŸhrerÒ ungeziemende Liaisons mit jungen Frauen im IWF und in anderen hochkarŠtigen
Institutionen nachgesagt wurden, die alle mit KŸndigungen der talentierten, gut
verdienenden Frauen endeten. Das Wiederholungsmuster der VorwŸrfe, die diesbezŸglichen Gerichtsverfahren, die ihm nachgewiesenen exzessiven Unterhaltungsvorlieben fŸr Sexparties mit Prostituierten, das mit DNA sichergestellte Sperma auf den Kleidern der Frau und die Unwahrscheinlichkeit, dass eine recht junge Mutter sich kurzfristig fŸr einen Sexualakt in einen recht alten Mann verliebt, stellte eine Situation dar, in der es schwer war, mit einem Freispruch zu rechnen. Aber genau das passierte, weil
die GlaubwŸrdigkeit der Frau wegen WidersprŸchen im Verhšrungsprozess
evaporierte und der Prozess aufgrund der Beweislage und der
GlaubwŸrdigkeitsprobleme der KlŠgerin vorzeitig eingestellt wurde. Ihre WidersprŸche hingen laut Diallo an †bersetzungsproblemen, was jedoch am Ergebnis nichts Šnderte. Weitere Verfahren gegen Strauss-Kahn in Frankreich im Zusammenhang mit einem Prostitutionsring und wegen vom franzšsischen Staat bezahlten teuren Sexparties sind immer noch am laufen. Seine šffentlichen €mter
und Superjobs wurden dem Politiker entzogen und seine gro§en Chancen auf die
franzšsische PrŠsidentschaft ist verspielt.
Das ganze war
absurd. Die franzšsische …ffentlichkeit war schockiert, ihren angesehenen, sehr
reichen, mšglichen nŠchsten PrŠsidenten in Handschellen in einem šffentlichen
GefŠngnis zu sehen. Der Freispruch wurde in Paris mit Erleichterung akzeptiert,
obwohl sich die Reputation von Strauss-Kahn durch weitere nachgewiesene Sex-
und Prostitutionsskandale seither wesentlich verschlechtert hat. In New York
war die Demontage des Charakters der Frau durch die Megaverteidigung von
Strauss-Kahn weniger erfreulich zur Kenntnis genommen, obwohl auch hier zum
Zeitpunkt des Prozessabbruchs die šffentlichen Sympathien fŸr Diallo durch
diese WidersprŸche aufgebraucht wurden. Bei Diallo kam es nicht nur zu
Diskrepanzen im Verhšr in Bezug auf das unmittelbare Nachher der Ereignisse im
Sofitel New York, - ich ging in das Zimmer, nein, ich ging nicht in das Zimmer; ich
putzte weiter, nein, ich putzte nicht weiter - sondern auch bezŸglich ihrer
Immigrationspapiere. Sie stammte aus der Krisenregion Guinea und Ÿbertrieb das
Elend ihrer damaligen LebensumstŠnde, um sich fŸr Einwanderungspapiere zu
qualifizieren. Im Verhšr war auch die Rede von einer Gruppenvergewaltigung in Ginea, von der sie sich
spŠter in den langen Verhšren wieder distanzierte. Ebenfalls hatte sie
freundschaftliche VerhŠltnisse zu anderen Immigranten aus Afrika, die im Knast
sa§en, mit denen sie telefonierte und auch Ÿber mšgliche Kompensationszahlungen
sprach.
Eine weitere
Dimensioin erlangte dieser Fall durch eine Konspirationstheorie, derzufolge das
ganze eine von der politischen Opposition in Frankreich inszenierte AffŠre sein hŠtte sollen,
um den sozialistischen Kandidaten zu eliminieren. Aufgrund von Videoaufnahmen und ZimmerschlŸsseldaten hŠtten mehrere Leute und auch Unbekannte in diesen Fall vermischt gewesen sein sollen, was aber nicht bewiesen werden konnte. Ob eine
Person des Hotelpersonals in DKSÕs Zimmer zwei Minuten vor seinem Erscheinen nur
die Teller entfernte oder auch einen BlackBarrie, der eine angebliche Warnung
vor einem Skandal anzeigen hŠtte sollen und seither unauffindbar ist, konnte
nicht geklŠrt werden. Es ist auch ohne Konspirationstheorie verstŠndlich, dass
dieser Hotelbedienstete sich weigerte, sich in lange Polizeiverhšre zu
verstricken. Es gibt genŸgend psychologische und
kriminalistische Literatur, die beweist, wie de facto Opfer unter Schock in
langwierigen Verhšren sich widersprechen und falsche Geschichten fabrizieren
kšnnen. HŠtte Diallo wirklich fŸr Sarkozys Leute gearbeitet, wŠre sie
vorsichtiger im Umgang mit TelefongesprŠchen umgegangen, denn solche Leute
hŠtten sie auf die Mšglichkeit von Telefonmitschnitten hingewiesen. Auch hŠtten
Nicolas Sarkozys Leute ein viel leichteres Spiel gehabt, Strauss-Kahn auf einer
seiner tatsŠchlich besuchten Orgien zu filmen und ihn so zu kompromittieren und
nicht durch einen solch heiklen Fall, mit einer regelmŠ§ig arbeitenden
Hotelbediensteten mit Tochter. Profis hŠtten einen besseren Job garantiert.
Auch sollten Spitzenpolitiker Bescheid wissen, dass es unangenehme Konsequenzen
nach sich ziehen kšnnte, wenn anscheinend junge lŠchelnde Hotelbedienstete
einem alten Mann im Nu sexuelle Offerte machen ohne dabei Geld zu verlangen.
Von gekaufter Liebe war nie die Rede. Der sexuelle Akt war durchs Vorhandensein
von DKSÕ Sperma auf den Kleidern der Bediensteten unumstritten. Ebenfalls
deckte sich die physische Untersuchung im Spital nach dem Ereignis mit der
Behauptung eines sexuellen †berfalls. Eine †bernachtung in diesem Luxushotel
kostet um die 2000 $ die Nacht, was alle GŠste der Gefahr von potentiellen
Erpressungsversuchen aussetzt und auch bessere WertgegenstŠnde als BlackBerries
zum Klau anbietet. Diallo war bis zu diesem Vorfall in keine Anschuldigungen
verwickelt.
Das Video Albert
Camus, L'Etranger / The Stranger, 1958 / 2011 bestand darin, mich zu filmen, wie ich an einem
sonnigen Morgen eine franzšsische Originalausgabe von CamusÕ Der Fremde so lange mit den FŸ§en die Franklin Street
entlang trat, bis das BŸchlein sich kaputt auflšste. Der ungeschnittene
Kameradreh beginnt mit dem Buch, das ich vor der Fassade einer Bank langsam in
die Sonne fŸhrte, bevor ich es der Strasse Ÿberlie§. Auf diesem Stra§enstŸck
befand sich das 14 Millionen teure Townhouse, das von Strauss-Kahn mit
entsprechender Polizeibewachung bewohnte wurde. Auf der anderen Seit der Stra§e
stand ein eingezŠuntes Gehege fŸr zahlreiche Journalisten bereit, die die Weltpresse mit Bildern fŸr Schlagzeilen belieferten. Vor diesem Zirkus trat ich mein armes,
unschuldiges Camus BŸchlein entlang, bis ich von uniformierten und
nicht-uniformierten Polizisten und SicherheitskrŠften mit der Drohung ãYou
donÕt wanna spent this weekend in jailÒ vertrieben wurde. Ich nahm also mein
BŸchlein in die Hand und verlie§ den unmittelbare DSK Bereich, verfolgte aber
weiterhin mein Ziel, das Buch Ÿber die nŠchsten paar hundert Meter zu
zertreten.
Das also war eine
absurde Aktion, die sich in eine lange Geschichte von Buchzerstšrungen
einschreibt, wie sie in Europa und anderswo aufgrund von politischen,
religišsen und moralischen Exzessen immer wiederholten. Erst letzte Wochenende
kam es zu Koranvernichtungen durch Besatzungstruppen in Afghanistan, die
mehrere Morde von Amerikanern und afghanistanschen SicherheitskrŠften nach sich
zogen. Diese Koranzerstšrungen provozieren absurde Reaktionen wie
Massenhysterie, Mord und Todschlag und spiegeln eine Situation, wo ebenfalls
eine im Recht sich glaubende quasi-neokoloniale Besatzungsminderheit denkt, sie
schaffe Recht und Ordnung, Friede und Sicherheit, Freiheit und Demokratie in
einer Art ãzivilisatorischen Mission,Ò die zwar nicht als solche deklariert,
aber als solche diskutiert und gerechtfertigt wird.
Ich empfand es als notwendig, das Buch gegen die Sonne
zu halten und dann sinnlos zu zerstšren und das im angespannten Radius eines sich entfaltenden Kriminalfalls, in dem ein reicher,
mŠchtiger, alter, europŠischer Mann auf eine relativ junge, arme
westafrikanische Frau aus Ginea stie§. Ginea war von 1890 bis 1958 Teil der
franzšsischen Kolonien, ist aber durch politische Gewalt, Vergewaltigungen und
Morde in der jŸngsten Vergangenheit gezeichnet. Den genauen Vorgang dieser
problematischen Interaktion zwischen diesem Mann und dieser Frau wird nie mit
Sicherheit geklŠrt werden, um was es aber in meiner kŸnstlerischen Arbeit nicht
geht. Es kommt hier weder zu einer Schuldzuschreibung noch zu einer moralischen
Sympathiekundgebung fŸr die eine oder andere Partei, sondern nur zu einer
kurzen absurden Durchquerung eines Schauplatzes mit internationalem
Spektakelwert.
Die Akteure dabei
sind nicht nur die Mittagssonne, die Stra§e mit ihren Pflastersteinen, die mich
vertreibende Polizei vor der mich ignorierenden Weltpresse und der
problematische Fall Dominque Strauss-Kahn, sondern auch der literarische Held
des Absurden, Albert Camus mit seinem Meursault,
der ebenfalls unter der Mittagssonne sein absurdes aber tšdliches GeschŠft
verfolgte. Im Gegensatz zu
CamusÕ literarischem Held, der einem Gericht sich stellen musste, trage ich mit
meiner absurden Aktion und dem dabei entstandenen Video nur vor der Sonne
Verantwortung. Mit nur dieser Verpflichtung vor der Sonne hŠtte
hšchstwahrscheinlich auch ein historischer Revolverheld ˆ la Meursault im kolonialen Algerien rechnen mŸssen, da
ja Franzosen gegenŸber Arabern gro§teils willkŸrlich verfahren konnten. Das
Absurde - und so rŠsoniere ich – versteckt sich hinter Politik und Kultur,
Macht und Machtlosigkeit, Gewalt und Elend und spricht den Dialekt ausbeutender Sinnlosigkeit. Es ist das ein interessenvolles Wohlgefallen am Absurden, das
vom Schšnen bis zum Bestialischen, von Liebe bis zur Vergewaltigung reicht.
Rainer Ganahl,
New York, MŠrz
2012
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