“Stell dir vor, es ist
Krieg und keiner geht hin?”
Krieg ist zum Kotzen!
Krieg eskaliert, während ich hier versuche, komplett ignorant was
zum Thema Krieg zu schreiben. Im Radio, im Internet, in der Zeitung, im
Fernsehen sind Kriegsberichte als Schlagzeilen, headline news,
ein ständiges Element im Mediendesign unserer Umwelt mit quasi-dekorativer
Funktion. Neben Werbung, Shopping, Unterhaltung und hundert anderen Informationen
und Ablenkungen (infostractions) finden sich jene Kriegsberichte,
die von den wenigen großen Agenturen – Reuters, Associated
Press – nonstop wie am Fließband freigegeben und verkauft
werden. Soeben eskaliert die Situation im Libanon, dessen Flughafen von
Israel bombardiert wurde. (BBC, WNYC radio, Yahoo News, derstandard.at).
Die gestrige Zeitung veröffentlicht Desaster Fotos von Mumbai mit
fast 200 Toten. (New York Times). Darin lese ich auch, dass die Anzahl
der Toten im Irak in den letzten 3 Tagen über 100 gestiegen sei.
Das ständige Morden im Sudan und in anderen Regionen der Welt schafft
es derzeit nicht als Bericht oder Schlagzeile. Auch sind die Überlegungen
und Defacto-Vorbereitungen zu Präventivkriegen gegen Nordkorea (Japans
Politiker und Verteidigungsminister äußern sich seit letzter
Woche positiv zu diesem Thema) und gegen den Iran derzeit von anderen
Nachrichten zurückgedrängt worden, was aber nur wenig an den
Fakten ändert.
Mir ist übel.
Ich gehöre zu den Generationen von EuropäerInnen, die keine
direkte Kriegserfahrung gemacht haben, obwohl der Krieg und Völkermord
in Jugoslawien defacto in Europa stattfand, was jedoch kein Eurpäer
wahrhaben will. Die derzeitige Eskalation im Libanon hätte mich vor
zwei Jahren theoretisch direkt überraschen können, besuchte
ich damals diese Region, was deshalb zusätzlich meine Vorstellung
animiert. Auch habe ich genügend Freunde hier in NY, deren Verwandte
in Haifa leben. Die Zerstörung des World Trade Centers habe ich mit
eigenen Augen und unmittelbar erlebt, es aber dennoch sehr abstrakt und
irreal wahrgenommen, obwohl ich etliche Leute kenne, die Freunde in dieser
Katastrophe verloren haben und ich monatelang schlechte und schädliche
Luft einatmen musste, was mir im Anschluss Atemprobleme beschert hat.
Durch besorgte Fragen und Diskussionen mit Europäern und Amerikanern,
die nicht hier leben, schließend, erschien es mir so, als ob die
Zerstörung der Twin Towers in den Köpfen von Nicht-New Yorkern
länger und intensiver erlebt wurde, als hier in der Stadt. Das bestätigten
aber auch so manche Umfragen nach 9/11 zur Einschätzung von Gefahr,
zum Erleben von Angst und zu den erwünschten Reaktionsvorstellungen
in Amerika. In dieser ambivalenten, von mir so empfundenen Diskrepanz
des Erlebens sehe ich die Macht der Medien auf unser Vorstellungsvermögen,
die es partiell schafft, Wirklichkeit in abstraktes Spektakel zu verklären
und Bilder so zu kontextualisieren, dass sie als unmittelbare, persönlich
durchlebte Realität wahrgenommen werden. Als ich im August 1991 in
Moskau (Jelzinkrise, Beschuss des Parlaments) zwischen den Panzern mit
Russen protestierte, kam ich mir wie ein Protagonist in einer déjà-vu
Tagesschau vor und fühlte mich deshalb relativ sicher, obwohl am
selben Abend noch etliche Protestierende nicht unweit von mir erschossen
wurden.
Ich kenne Krieg nur aus den Medien, und aus persönlichen Berichten
von Menschen, die davon betroffen waren. Ich erinnere mich zum Beispiel
an einen jungen kosovarischen Künstler aus London, den ich vor drei
Jahren am Strand in Albanien angetroffen habe. Auf meine Frage zum Krieg
erzählte er mir, dass er freiwillig mit drei Freunden von London
in den Kosovo geflogen sei, um am Krieg teilzunehmen, um dort seine Leute
zu verteidigen. Er war der Einzige, der überlebte. Das hat mir den
Atem gestockt. Ich konnte nicht mehr weiterfragen, ich wollte nichts mehr
wissen. Ein beklemmendes Scham- und Schuldgefühl vermischte sich
mit der Tageshitze. Ich ahnte, dass hinter all diesen unvorstellbaren
Zerstörungen, die sich Krieg nennen und uns in beeindruckenden, ästhetisierten
Fotos und Berichten ständig uns heimsuchen, eine Banalität klafft,
die die Grenzen zur Gewalteskalation bedeutungslos, hemmungslos und sinnlos
frisst.
In den 60er und frühen 70er Jahren waren die beiden Weltkriege eine
Angelegenheit von neugierigen Fragen und ausgesuchten Antworten und Erzählungen
im Kreis der Familie, jedoch kaum ein Thema in meinen Schulen. (Die Frage,
“Hast du auch geschossen?” blieb bis heute unbeantwortet,
wobei sein ausweichendes Schweigen und die Kugelsplitter im Hals und Schädel
meines Vaters eine Form von Antwort sind). Als Kinder konnten wir auch
noch in den Kriegsruinen und Bunkergräben dieser Kriege spielen,
uns verstecken, ja uns sogar küssen. Munitionshülsen und anderes
Kriegsmaterial wie Auszeichnungen, Teile von Uniformen, Taschen, Schuhe
und Reichsmark aus den Dachböden waren Teil unserer Spielzeuge. Es
waren auch noch etliche Kriegsbehinderte zu sehen und sie existierten
nicht nur, in den Straßenbahnrichtlinien, die ihnen vor Schwangeren,
Blinden und alten Leuten den Vorrang einräumten. In den 70er und
80erJahren hing die Bedrohung eines nuklearen Winters als real-irreales
Gespenst über uns allen, singen selbst The Clash in "Lonndon
Calling" von nuclear fear. Diese ambivalente real-irreale
Dimension des sogenannten Kalten Kriegs, war Teil eines persönlichen
Grundgefühls. Als Teenager mit nur momentanem, kurzlebigem Zeitgefühl,
der schon seine Mutter und seinen Bruder auf unnatürliche Weise verloren
hatte (den indirekten psychologischen Langzeiterscheinungen des II. Weltkriegs
zuzuschreiben), war mir nihilistisch klar, dass ich es nicht bis Dreißig
schaffen würde. Krieg würde uns alle vorher vernichten.
Meine Großeltern hatten zwei Weltkriege erlebt, meine Eltern einen
und deren Erinnerungen und Erzählungen – ebenfalls Medien -
sind nicht völlig an uns verschwendet worden, sondern segmentierten
unter der Schädeldecke. Diese Weltkriege hatten was sehr Monumentales
und historisch Überwältigendes und schienen für uns Kinder
wie von Gott gesandt. Die Großmutter hielt uns mitunter auch zum
Beten an, dass nicht wieder ein Krieg über uns hereinbräche.
Der Krieg nahm so eine meterologisch-theologische Qualität an, einem
von Gott gesandten Gewitter. Geopolitisch fühlte ich mich in Vorarlberg
aber auch sicher. Die Berge schienen Schutz vor atomaren Angriffen zu
bieten, gibt es doch kein bemerkenswertes Angriffsziel in unmittelbarer
Nähe. Die Berge schützten allerdings nicht vor den mit Atomdreck
geschwängerten Wolken von Tschernobyl, die damals still, normal,
schädlich und unvorstellbar banal über die Alpen zogen. Die
Katastrophe des Atomkraftwerkes bescherte uns ahnungslos, ungeschützt
und unangekündigt einen Regen, der Gigazähler zum piepen brachte.
Die Abrüstungsgrundstimmung und Friedensbewegungen dieser Jahre machte
mich zum überzeugten Pazifisten. Man protestierte und trug T-Shirts,
Halstücher, Klebebildchen und Anstecker, die dem Frieden und der
Abrüstung das Wort redeten. Man fuhr per Anhalter nach Deutschland,
Italien und in die Schweiz zu Protestkundgebungen, Friedensmärschen
und -konzerten. Damals kursierte ein berühmtes Zitat in diversen
Formen, das man (vielleicht fälschlicherweise) Bertold Brecht zuschreibt:
"Stell dir vor, es kommt Krieg und keiner geht hin.” Ich glaube,
es war auch ein Aufsatzthema im Deutschunterricht. Zu meiner Überraschung
lerne ich soeben bei Google, dass das so oft auf Plakaten abgedruckte
Zitat nicht vollständig war und der Satz eine trügerische Koda
kennt, der die pazifistische Hoffnung zunichte macht: "Stell dir
vor, es kommt Krieg und keiner geht hin, dann kommt der Krieg zu dir."
Der mit Pazifismus nicht zu vereinbarende, also unlogisch erscheinende
Nachsatz verblüfft mich nun vorerst, denn sollten wirklich die Schlachtfelder
leer sein, kann doch der Krieg in keine Richtung mehr marschieren, also
auch nicht zu uns kommen. Sollte der Krieg ohne Soldaten auf uns zukommen,
so entpuppte sich die pazifistische Losung also nicht kriegsverhindernd,
sondern als subtile Aufforderung zur Kriegsmobilisierung, machten also
diese Losung für Kriegsverweigerung und Pazifismus sinnlos.
Heute sehen wir, dass dieser Satz durchaus auch wortwörtlich verstanden
werden darf und Schlachtfelder auch ohne Soldaten auskommen können.
Wir sehen technologische Dispositive, die Zerstörungen an Bildschirmen
programmieren und Armeen durch Outsourcing in nicht-militärische,
teilweise privatisierte Spezialeinheiten auflösen lassen. Soldatenlose
Schlachtfelder können auch überall dort entstehen, wo politisch
ungelöste Konflikte sich asymmetrisch manifestieren und in Sporttaschen
und in Gürteln Tod und Elend in besetzte Restaurants, Vorstadtzüge,
U-Bahnen, Theater und Markhallen spazieren. Schlachtfelder sind mehr und
mehr am Verschwinden bzw. breiten sich, wie mir scheint, über ganze
Regionen und Halbkontinente aus. Dem reaktionären Theoretiker Samuel
Huntington zufolge werden ganze Kulturen und Zivilisationen zum Kriegsschauplatz.
Auch dazu braucht es keine Mobilität und niemand muss hingehen.
Mit den Medien kommt der Krieg ohne Zeitverzögerung zu uns auf den
Schreibtisch und ins Wohnzimmer und die hoffnungsvolle Losung des Nicht-zum-Krieg-Hingehens
könnte nun zur Frage mutieren, was wohl passiert, wenn Krieg ist
und keiner hinschaut? Man könnte vielleicht noch genauer formulieren
und fragen, was passiert, wenn man die Schlagzeilen, die uns beim Emaillesen
anschauen nicht anklickt? Am Rechner zumindest guckt uns alles, auch headline
news, direkt ins Gesicht. Dank sensibler Technologien eruieren
diese Nachrichtenströme unser Internetverhalten. Registriert oder
nicht, alle hits und das Volumen der Seitenbesuche werden nummerisiert,
registriert, analysiert und zu Benützerprofilen ausgewertet. Es braucht
kein besonderes Interesse oder Geschick und schon läuft man Gefahr,
auf Internetseiten zu landen, die radikale Inhalte jeglicher Art propagieren.
Der Große Bruder von “1984” lebt 2006 in einer Großfamilie
mit unzähligen Geschwistern, die jede denkbare Form – selbst
logarithmische Alpträume und mathematische Schmetterlingseffekte
- annehmen können. Wie man weiß, forderte das State Department
die Suchdaten von Google und anderen Suchmaschinenenbetreiber ein, um
sich ein Bild vom Interesse der vielen Millionen Benutzer machen zu können.
Es gibt Krieg und du wirst dabei beobachtet, ob du hinschaust. Es ist
sicherlich eine subtile Form von Selbststzensur und Paranoia, wenn ich
hier erkläre, dass ich es nicht gerne wage, allen links online zu
folgen und sinistre Nachtrichtenquellen zu studieren. (Es gibt geheime
non-flight lists für potentielle Risikogruppen, die mitunter rasterfanderisch
errechnet werden. Mittlerweile haben wir die Bestätigung, dass alle
Telefongespräche in den USA analysiert worden sind).
Ich schaue trotz der depressiven Weltsituation noch hin, muss aber zugeben,
dass auch ich mich überfordert fühle. Hinschauen, klicken und
navigieren ergänzen mein Zeitungsabonnement. Mittels Maus schicke
ich die Radiosendungen diverser internationaler Sender aus der ganzen
Welt in meinen Verstärker und runde so meine Weltbilder aus der Infopipeline
akustisch ab. Es fällt auf, dass sich Berichte aus Deutschland, Österreich,
Frankreich, England, Japan und den USA nicht nur in der Präsentation,
der Illustration und dem Erscheinungszeitpunkt, sondern auch in der Interpretation
kaum von einander unterscheiden. Der Grund liegt vielleicht darin, dass
die Grundberichte wenigen kaum unterschiedlichen Quellen zuzuschreiben
sind. Krieg will also angeschaut, angehört werden. Was man Terrorismus
nennt, kann ohne Kameras und Berichterstattung nicht existieren. Krieg
und Terrorismus, Terrorismus und Krieg werden für ein internationales
Nachrichtenpublikum zugeschnitten und geschnitten. US Bürger kriegen
keine US Gefallenen zu sehen und noch weniger verletzte Soldaten. Selbstverständlich
ist die Welt der Interessen und Konflikte komplizierter und sollte nicht
märchenhaft karikaturiert werden. Karikaturen, wie wir letzthin gesehen
haben, können selbst Gewalt auslösen, und Teil von neuen Kriegsschauplätzen
werden. Da Krieg, wie es richtig heißt, nicht die Summe der gefallenen
Bomben und Toten ist, sondern ein Konstrukt auf vielen Ebenen, das jede
Art von Repräsentation beinhaltet, ist es nicht verwunderlich, dass
so Journalisten und ganze Fernsehstationen immer wieder unter Beschuss
kommen und selbst zum Schlachtfeld werden. Bilder folgen Bomben und Bomben
folgen Bildern.
Follow the money hieß es bei der Aufklärung von Watergate.
Dieser Rat ist sicherlich auch heute ein entscheidender Wegweiser, um
Gewalt und ihre Ursachen zu studieren. Die AmerikanerInnen verstehen das
Geschäft mit dem Geld und der Beobachtung der “swiften”
weltweiten Geldbewegungen sehr gut, sind aber noch besser darin, ihre
politischen, ideologischen, ökonomischen und sozialen Interessen
weltweit direkt und indirekt erfolgreich zu finanzieren. Ein Portrait
der derzeitigen Bush-Administration entspricht mehr oder weniger dem Profil
der wichtigsten Sektoren der heutigen Weltwirtschaft: petrochemische und
pharmazeutische Industrien, finanzielle Sektoren und nicht zuletzt der
miltärisch-industrielle Komplex. Interessanterweise fehlen dieser
Regierung Vertreter der sogenannten neuen Technologien, was vielleicht
dem zarten Alter, dem oft liberalen Background und der Diversität
der Hauptprotagonisten zuzuschreiben ist. Diese Megainteressen und Machtkonzentrationen
scheinen wie Brückenköpfe zu den heutigen Kriegsschauplätzen
und Konflikttheatern zu funktionieren.
Dem Geld und der Macht aber folgen auch die Bilder. Macht, Geld und Bilder
reimen sich so wie Krieg und Interesse. Erkenntnis und Macht, Resourcen
und Gewalt. Der interessante Kontrast zwischen Follow the money und
Follow the pictures ist, dass Geld in Form von Steuern, hohen
Preisen, Staatsraub, Korruption usw. aus unseren Taschen abfließt,
Bilder aber auf uns zukommen. Bilder und irreführende Erklärungen
überfluten uns auch ohne dass wir sie bestellen, wollen oder auch
nur schätzen. Dieser asymmetrische Handel von Geld, Macht, und Gewaltmonopolansprüchen
mit Bildern, Rechnungen und Lügen ist für sich selbst genommen
auch ein Milliardengeschäft. Der frühere Primierminister Berlusconi,
face lifting und reichster Mann Italiens, der Bush apriori die absolute
Unterstützung für den Krieg im Irak zusicherte, kontrolliert
den Großteil der italienischen Medien und ließ sich Gesetze
wie Hemden für den großen Eigenbedarf zuschneiden. Die entsprechenden
Bilder folgten.
Macht, Geld und mit Sprechblasen oder Publikationsverbot versehene Bilder
sind also das Medium in dem Kriege ausgetragen werden. Kriegsschauplätze
sind deshalb bevölkert mit Geld, Göttern und Macht, mit Bildern,
Ideologien und Interessen. Sodaten sind hier Nebensache. Nicht aufs Schlachtfeld
gehen, müsste deshalb vielmehr heißen: Nicht-Bezahlen, Nicht-Glauben,
Nicht-Handeln, Nicht-Hinschauen, Nicht-Zuhören, Nichts-Wollen, Nichts-Konsumieren.
Aber selbst dann rückt uns der Krieg auf die Pelle, werden Kriege
auf Bevölkerungen geschmissen. Involviert ist man, ob an der Front
oder Zuhause, im Schussvisier oder scheinbar sicher hinter den Tod und
Zerstörung bringenden Waffendispositiven. Zur Zeit des Vietnamkriegs
hieß es, - wahrscheinlich nach Martin Luther King – dass jede
in Vietnam abgeworfene Bombe auch in einer amerikanischen Stadt (inner-city)
explodierte. Der internationale Terrorismus illustriert diesen Satz noch
grausamer immer wieder aufs Neue (London, New York …).
Die Miniaturisierung von Technologie und Waffensystemen jeglicher Art
(pocket size laser guided weapons), die demographischen und transporttechnischen
Revolutionen der letzten 40 Jahre, die aus jeder Metropole ein quasi-Abbild
der Weltbevölkerung gemacht haben, exponieren den Nibelungenliedtraum
der absoluten Unverletzlichkeit erneut als schrilles Hirngespenst. Aber
auch in der konventionellen gewaltsamen Konfliktlösungserzwingung
ändert sich die Situation dramatisch, sodass absolut klare militärische
Dominanzverhältnisse immer mehr fatamorganisch wirken. (die mission
accomplished im Irak ist ein weiteres Beispiel) Nach kaum zwei vergangen
Wochen muss die sich verkalkulierte israelische Armee feststellen, dass
die Luftangriffe ihren Gegner im Libanon nicht auf die angenommenen 50
% reduzierte und dass sie es nun mit einem Feind zu tun haben, der nicht
nur über iranische Waffensysteme verfügt, sondern auch über
moderne chinesische Raketen, mit denen es ihm sogar gelang, ein Schiff
auf hoher See zu vernichten. Mittlerweile droht der Konflikt, der hier
in den US-Medien als proxy-war, als Stellvertreterkrieg zwischen
den USA und dem Iran diskutiert wird (What a nightmare!), sich
auf die gesamte Region auszubreiten. Fasten your seat belts!
Das utopische Hoffen, man könnte Kriege, Götter, Bilder, Bomben
und Raketen vielleicht doch dem Himmel entreißen, mischt sich mit
melancholischer Aporie, politischer Machtlosigkeit und dem konfusen Hass
auf alle Entscheidungsträger. Was jedoch oft fehlt, ist eine Dosis
von zumindest abstraktem Mitschuldgefühl an jenen Kriegen, die eindeutig
um die Sicherung von Rohstoffen und anderen westlichen Hegemonieansprüchen
ausgetragen werden, zählen wir doch alle zu den Nutznießern
dieser Produkte und den damit zusammenhängenden Lebensstilen. Wir
fahren Autos, fliegen und benutzen TVs, Computer, Klimaanlagen und andere
energieschluckende Annehmlichkeiten. Auch ein Großteil unserer Kleider,
Geräte, Lebensmittel und Getränke – selbst Wasser - durchreisen
ständig Kontinente und Meere, die Kosten erzeugen, die wir nie direkt
bezahlen. Mich wundert es, dass nicht schon die Natur selbst, das global
warming oder die Gletscherschmelze auf die axis of evil
gesetzt und als Terroristen bezeichnet werden. Natur ist ein wunderbarer
Protagonist, den arrogante unilaterale Beschlüsse wenig reizen. Die
Konsequenzen jedoch terrorisieren uns jetzt schon.
Die provokante Frage, “Stell dir vor, es ist Krieg und … “
ist eine nicht zu unterschätzende Spinnerei, die für ihr absurd-utopisches,
quasi-poetisches, artistisch-verrücktes Anwandlungvermögen weitergespinnt
werden muss!
Stell dir vor, dass heutige Krieger – z. B. Israelis, Libanesen
oder Palästinenser - ohne Waffen, also ohne uraniumhaltige Raketen,
ohne Hubschrauber, ohne Selbstmordgürtel und ohne selbstgemachte
oder vom Iran erhaltene Projektile aufs Schlachtfeld kommen und nur mit
den Händen kämpfen dürften!
Stell dir vor, die Medien würden nur mit Erzählungen und Marathonläufern
auskommen müssen!
Stell dir vor, die US-Medien würden nicht nur tote Araber und Afghanen,
sondern auch die 2500 toten und 19000 verletzten Soldaten der US Streitkräfte
im Irak veröfftentlichen!
Stell dir vor, die wahren Kosten von Krieg und Konsum würden direkt
den Konsumenten in Rechnung gestellt!
Stell dir vor, Militärstrategen wären fahrradfahrende Künstler
mit arabisch und chinesisch Kenntnissen und ohne direkte Vernetzungen
zu Lobbygruppen!
Stell dir vor, Friedensverhandlungen würden nicht mit der Arroganz
militärischer Suprematie, sondern mit der Einsicht gegenseitiger
Verwundbarkeit geschlossen!
Stell dir vor, es protestierten
täglich zumindest alle jene KonsumentenInnen gegen den Krieg in den
Straßen von Washington und London, die die heutigen Ölpreise
zu hoch finden!
Stell dir vor, dass der Sudan im direkten Interessenshorizont der Westmächte
läge und mit jedem niedergemetzelten Dorf alle Waren um einen Cent
weltweit stiegen!
Stell dir vor, dass Religion und mediengesteuerte Angst in dem Maße
austrocknen, wie die Versandung und Verwüstung der Welt durch Klimaänderung
voranschreitet und neue Konflikte schafft!
Stell dir vor, Welthandel würde wirklich liberal, mutuell und gerecht
abgewickelt und Interessen und Reichtümer sinnvoll verstreut und
nicht gierig konzentriert!
Stell dir vor, das absurde Wiederholen dieser quasi-dadaistischen Forderungen
nach Frieden würde jene blamieren, die Waffen protestierende Menschen
auf den Straßen vorziehen!
Stell dir vor, die Vorstellungen von poetologischen Träumern, von
urban verwöhnten, nicht-zu-kurz-gekommenen Alternativen und nicht
zuletzt von den LeserInnen dieses hilflosen Essays hätten einen Defacto-Effekt
auf die heutige Politik!
Stell dir vor, Leute fingen an zu begreifen, dass Andersdenken in dialektischem
Verhältnis zum Andershandeln steht!
Stell dir vor, die BewohnerInnen von New York, Washington, Los Angeles
und hundert anderen Städten Amerikas und Europas würden wie
beim letzten Stromausfall ungeordnet aus ihren Setzkästen in die
Straßen gespült, und dort gegen die überall vorherrschende
Kriegspolitik protestieren!
Stell dir vor….
Rainer Ganahl
New York, July 24, 2006
www.ganahl.info
dieser text sollte erscheinen in:
"gewalt und praezision" (kann
sich aber noch aendern) bei turia + kant, wien im oktober/november. hrg:
dorsis wallnöfer
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