Rainer Ganahl

 

Ganahl-Dütsch, odr?

 

I.

 

Kreditkartenfirmen können zurecht in ihren Werbeclips mit der Tatsache spielen, daß ihre Karten alle Sprachen verstehen: “It’s Fluent in Every Language” (Visa); “Any time, Anywhere, Any Language” (MasterCard). Hinzugefügt werden kann, daß auch das, was die Karten gegen eine Unterschrift eintauschen, selbst wenn die Schrift unleserlich bleibt, in den meisten Fällen ebenso eine international verständliche Sprache spricht. Waren und Serviceleistungen, Verkehrs- und Kommunikationsmittel, sowie deren Werbe- und Verkaufsflächen “sprechen dieselbe Sprache”,  d.h. gleichen sich weltweit immer mehr aneinander an. Je nach Branche werden Produkte und Service von nur wenigen multinationalen Herstellungsgruppen erzeugt und angeboten. Dort wo Unterschiede noch erkennbar sind, werden diese oft als Tourismuskitsch verkauft oder in ökonomisch  soziale, rassistisch religiöse Vorurteile übersetzt. Obwohl also die Menschen der “ernährten” Welt anfangen, dasselbe zu essen, in denselben Kleidern zu gehen, dieselben Autos zu fahren,  dieselben audiovisuellen Produkte zu konsumieren, sich denselben Versicherungs- und Bankservicen anzuvertrauen, bleiben die sprachlichen Unterschiede weiterhin bestehen und dominierend.  

 

Sprachen lassen sich nicht wie Waren oder Serviceleistungen kaufen. Sogenannte Fremdsprachen verlangen bis zur Beherrschung jahrelanges Lernen, von Kindern genauso wie von Erwachsenen. Die Zeit des Spracherwerbs ist nicht die Zeit von Kreditkarten, Flugtickets, TV-Programmen oder Einkaufszentren. Sprachzeit ist Lebenszeit. Sprachveränderungen bringen Lebensveränderungen mit sich, wie umgekehrt einschneidende Lebensveränderungen zumeist Sprachveränderungen bewirken. Jeder wächst zumindest mit einer Sprache auf, die er je nach Erfahrung und Umwelt erlernt und anwendet. Sprachen werden im Erziehungsalter meistens in Schulen gelernt. Dort zählen das eloquente Sprechen der Landessprache und das Erlernen von Fremdsprachen zu den wesentlichen Auswahlskriterien für die Berufs- und Studiumswahl.

 

Sprachkompetenz entscheidet so über Sozial- und Lebenschancen und situiert nicht nur junge Leute. Während des sehr schwierigen Übergangs von der sowjetischen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Rußland, konnte ich selbst 1991 und 1992 beobachten, wie an der Sprachgrenze die Hungergrenze verlief. Diejenigen, die eine Fremdsprache beherrschten, hatten Kontakte zu Ausländern, deren harte Währung mehr als nur hartes Brot bescherte. In den New Yorker sweat shops, wo billige Arbeiterinnen aus Südostasien oder Zentralamerika die Arbeits- und Gesundheitsgesetze verletzen müssen, wird Englisch oft nicht verstanden. Millionen nach Arbeit und gewaltfreien Lebensverhältnisse suchende Menschen, die ständig in der Welt umhergestoßen werden, sprechen meistens die Landessprache nicht oder nur unzureichend und erleiden deshalb zusätzliche Not. Das Nichtbeherrschen der Landessprache rechtfertigt oft ungerechte Arbeits- und Lebensbedingungen. Auch in Vorarlberg finden sich am unteren Ende des Sozial- und Arbeitsspektrums vorwiegend Leute, die kein oder nur ungenügend Deutsch sprechen können.  Der Weg von “Du arbeiten jetzt” zur sprachlichen und sozialen Integration ist lang und bedarf mitunter Generationen. Aber auch bei völliger sprachlicher Integration in den dorfeigenen Dialekt bleiben oft Vorbehalte bestehen.  

 

Sprachen haben neben der sozialen auch eine nationale Bedeutung. Sie schaffen Identität. Die politisch verwürfelten deutschsprachigen Länder des 19. Jahrhunderts konnten - mit Ausnahme der Schweiz und Österreich - durch die Gemeinsamkeit der deutschen Sprache und durch der Schaffung einer Deutschen Literatur, einer Deutschen Kunst und einer Deutschen Geschichte die politische Vereinigung antizipieren und schließlich auch vor ungefähr 120 Jahren erzwingen. Damals vereinigte sich auch Italien, dessen Mehrzahl der neuen Staatsbürger kaum Italienisch sprachen. Die Französische Revolution brachte den Franzosen eine politisch vereinte Nation und die Auflage, der zufolge auch die restlichen 67 % des Landes ausschließlich Französisch zu lernen und zu sprechen hätten.[1] Spanien, Belgien, Canada, Ex-Jugoslavien und viele asiatische und afrikanische Länder haben diesen sprachlichen Vereinigungsprozeß bis heute nicht geschafft.[2] Absurde Konflikte und Diskriminationen, Bomben und Kriege sind so Teil des charakteristischen Vokabulars ohne sinnvolle Grammatik.

 

Der Grund, wieso Sprachen nicht ohne Gewalt und Zwang - und sei es nur ökonomischer und sozialer Zwang -  aufgegeben werden können, hängt damit zusammen, daß Sprachen das gesamte individuelle und kollektive Gedächtnis der Menschen verwahren. Leben und Sinn vermitteln sich wesentlich sprachlich. Geschichten und Geschichte werden erlebt, erzählt, geschrieben und sprachlich übertragen. Es liegt deshalb immer im Interesse der politisch Dominierenden, deren Sprache und Schrift dem Volk aus Gründen der Regierbarkeit vorzuschreiben, eine Vorschrift, die sehr bald von einem Teil der neu Regierten als vorteilhaft empfunden wird. Die Kolonialgeschichte ist so wesentlich auch eine Sprachgeschichte. Spanisch und Portugiesisch werden in Südamerika gesprochen; Englisch in Indien, Pakistan, Südostasien, Afrika, Nordamerika, und Neuseeland; Französisch in Afrika, Nordamerika, und etlichen Karibischen Inseln, um hier nur mit dem Daumen sehr ungenau auf einige dominante eurozentristische Kolonisationsspuren zu verweisen. Vergessen sollte auch nicht die Russifizierung der halben Welt unter ex-sowjetischem Einfluß werden, wo heute zum Teil erst mit Mühe lokale Sprachen wiedererlernt werden müssen. Die Russifizierung stoppte nicht einmal vor Familien- und Eigennamen.[3] Die Idee der Staatsgründung Israels lief Hand in Hand mit der Schaffung des modernen Hebräisch.

 

Die Befreiungsmächte des II. Weltkriegs brachten im westlichen Teil Europas Englisch als Unterrichtsgegenstand in die Schulen und in der Ostzone Russisch. Französisch blieb durch die politische, militärische und ökonomische Schrumpfung Frankreichs als Diplomatie- und Weltsprache auf der Strecke. Wenn auf einer internationalen Konferenz in Tokyo oder Seoul eine französische Teilnehmerin, die sehr wohl fließend Englisch sprechen kann, darauf besteht, daß sie ihren Vortrag auf Französisch halten darf und man noch ein zusätzliches Übersetzerteam bereitstellen muß, da bis auf 3 Personen im Saal niemand französisch versteht, so ist das eine nostalgisch-post-imperialistische Geste, die sprachlicher Vormachtstellung und Arroganz nachtrauert. Englisch ist durch die historische Dominanz des kolonialistischen Englands und die heutige ökonomische, militärische, technologische und politische Vormachtstellung der USA zur dominierenden Verkehrssprache des Großteils der Welt geworden. Man darf jedoch nicht vergessen, daß sowohl die USA als auch England beachtliche Geldsummen weltweit für Englischunterricht investieren. Ein geheimes Ziel dieser Sprachpolitik liegt darin, Englisch als Lingua Franca auch im vielsprachigen China und im vielsprachigen Rußland durchzusetzen. Das chinesische Fernsehen bietet permanent Englischunterricht an. Auch in der viersprachigen Schweiz avanciert Englisch zur Verkehrssprache, was durch eine erst neulich adoptierte veränderte Sprachpolitk in der Ostschweiz forciert wird. In den deutschsprachigen schweizer Schulen ist nun nicht mehr Französisch die erste Pflichtfremdsprache, sondern Englisch.[4]

 

An der Sprache hängen Ökonomie, Technologie, Information, Kultur und Unterhaltung gleichzeitig.  Englisch ist das Schwarze Gold, das den Dollar nicht nur vom show business Hollywoods zur Wallstreet und der Londoner Börse zum singen bringt, sondern weltweit an allen Treffpunkten und Tauschplätzen schwingen läßt. Es ist nicht wirtschaftlich bedeutungslos, daß seit langer Zeit die französischen Chansons als internationales Exportgut ausbleiben, jedoch bald jedes vorarlberger und vietnamesische Kind amerikanische Songs imitieren kann, um erst gar nicht von der Vorherrschaft multimedialer Exportprodukte zu sprechen. Mit der steigenden Dominanz des Internets und des digitalen Welthandels von Information, Waren, Finanz- und Serviceleistungen, vervielfacht sich noch die Vorherrschaft der Englischen Sprache als oft fehlerhaft benutztes, vereinfachtes nationsloses Esperanto. Der sprachlich hybride Umschlag dieser Publikation spielt mit diesem Faktum. Englische Ausdrücke dringen als Fremdwörter in nahezu alle Sprachen ein, so daß sich die Frage aufdrängt, ob es nicht auch zu einem “sprachlichen Zusammenschluß” (linguistic merger) kommen kann, was den wirtschaftlichen Fusionen von Daimler Benz mit Chrysler und der Frankfurter Börse mit der Londoner gelegen käme. Nicht zuletzt läßt sich die Tendenz erkennen, daß Englisch zur Wissenschafts- und Kommunikationssprache weltweit avanciert, wie das in vielen Ländern ansatzweise schon der Fall ist und in diversen Disziplinen schon überall praktiziert wird.[5]

 

II.

 

Innerhalb der Geographie einer Standardsprache existieren oft Dialekte und phonetische Abweichungen, die Zeuge von unterschiedlichen historischen und sozialen Entwicklung ablegen. Dialekte und Idiome sind lokale sprachliche Eigenwege, die oft nicht in ihrer Eigenständigkeit, sondern negativ in ihrer Abweichung von der Norm begriffen werden. Dialekte werden in den meisten Fällen bleiben ohne schriftlich festgesetzte Normierung. Sie sind abhängig von der Masse ihrer Sprecher, deren sprachliche Identität vorerst an eine regional begrenzte Mundart gebunden ist. Dialektsprecher sind heute meistens mehrsprachig. Sie beherrschen neben ihrem örtlichen, familiären Dialekt zumeist auch noch eine überregionale Umgangssprache und eine standardisierte Schriftsprache. Die diversen Sprachebenen bleiben voneinander wesentlich getrennt. Häusliches und örtliches Sprechen unterscheidet sich vom verbalen Austausch, den man in der Stadt, in anderen Regionen oder mit Vertretern von überregionalen Institutionen - Schule, Polizei usw. - unterhält. Das Wechseln der Sprachregister ergibt sich aus Gründen der Verständlichkeit. De facto aber herrschen überall auch sprachliche Zwänge vor, die Anpassung und Codebeherrschung den Sprechern abverlangen. Sprachvielfalt und Sprachwechsel haben was befreiendes und bereicherndes, wenn die diversen Sprachebenen wohl beherrscht werden. Allerdings läßt sich überall die Tendenz beobachten, daß lokale Sprechweisen und Mundarten von den jeweiligen Sprechern durch den Druck einer standardisierten sprachlichen Mehrheit mitunter als stigmatisierend erlebt werden, was erklärt, wieso Dialekte verloren gehen. Es haftet ihnen etwas begrenztes an, weil der Dialekt nicht mit sozialer und erzieherischer Aufwärtsmobilität assoziiert wird. Berufsgruppen mit nur örtlichen Bezugsrahmen sprechen in der Regel den Ortsdialekt mit größerer Selbstverständlichkeit als Leute, deren Interessens- und Kontaktradius überregional ausgerichtet ist. In Ballungszentren mit intensivem überregionalem Austausch und Verkehr im Verbund mit Informationsvorteilen läßt sich ein nivellierender Sprachwandel eher feststellen als in Gegenden, wo die soziale und demographische Situation stabil ist und Kommunikation nicht durch das ständige Auftreten von als privilegiert empfundenen Anderssprechern verunsichert wird.

 

Dialekte charakterisieren sich nicht nur politisch-geographisch als “Regiolekte”. Sie sind oft auch sozial bestimmt als “Soziolekte”.  In den meisten Fällen entwickeln sich daraus überregionale Umgangssprachen, deren Sprecher sich mit einer bestimmten sozialen Position identifizieren. In Vorarlberg, das westlichste, kleinste und mit Bergen beglückte Bundesland Österreichs stoßen diverse lokale Mundarten mit einem Soziolekt aufeinander. Bevor das Land erst relativ spät als einheitliches Gebiet zu Österreich kam, war es politisch unterschiedlich organisiert, was ihm eine Dialektvielfalt bescherte. Mit der frühen und relativ intensiven Industrialisierung des “Ländle”, was u. a. auch der Abwesenheit von starken Zunftordnungen und der Anwesenheit einer armen, tüchtigen Berg- und Talbevölkerung zu verdanken war, die bis in das 20. Jahrhundert Kinderarbeit leisten mußte, entstand eine kleine Fabrikantenklasse, die ihren eigenen Soziolekt entwickelte. Diese vom Ortsdialekt abweichende Redearte wurde je nach Ortschaft entweder nach Industriellenfamilien - etwa Ganahl-Dütsch[6] -  oder metonymisch nach der bevorzugten Niederlassung dieser großbürgerlichen Schicht an sonnigen Berghängen - Bödele-Dütsch, Pfänder-Dütsch - genannt.  Ganahl-, Bödele- oder Pfänder-Dütsch wurde auch identifiziert mit der Beamtenschicht, die im 19. Jahrhundert noch bevorzugt vom restlichen Österreich geschickt wurde, die sich ebenfalls vom Dialekt absetzte. Sprachlich hat dieser oberschichtspezifische Soziolekt seine linguistischen Quellen einerseits im Kontakt mit den schwäbischen und bayrischen Anderssprechenden in den süddeutschen Textilschulen, andererseits in den aus Wien und anderen österreichischen Städten mitgebrachten Umgangssprachen der höheren Beamten. Es wurden attraktiv empfundene Standardformen fragmentarisch übernommen, selbst wenn diese Sprachformen dort keine besondere Schätzung erfuhren. Die Effekte dieser hybriden Minimalabweichungen vom Dorfdialekt sind markant, auch wenn sie von Deutschsprechern aus anderen Regionen kaum unterschieden werden können. Diese geringen, an soziale Klassen, soziale Praktiken und soziale Orientierungen gebundenen sprachlichen “feinen Unterschiede”[7] finden sich überall. Sind sie auch überall Objekt der gegenseitigen Ausgrenzung, der Verachtung und des Spottes.

 

In den Gesprächen, die ich für die Arbeit Reda - Zur Vorarlberger Mundart aufgezeichnet habe, kommen dieses Bödele- und Ganahl-Dütsch immer wieder als verachteter, gehaßter Sprachhabitus vor,  den immer nur die “anderen” sprechen, mit dem sich aber niemand selbst identifizieren möchte. Hubert Matt karikiert ihn wie folgend: “Da bin ich gwesen, da hab i kabt und denn sin wir mit dem Merzedes nach Mailand gfahrn, um an Parmesan kaufn z gehn” (Da war ich, da hatte ich, und dann sind wir mit dem Mercedes nach Mailand zum Parmesaneinkauf gefahren). Laut Matt wird Pfänderdütsch unter “Beamtentöchtern und Söhnen oder Arztkindern” gesprochen. Er fährt fort: “In einem gewissen Sinne ist es eine sehr artifizielle Vermischung zwischen dem Bedürfnis, sich Hochdeutsch zu artikulieren und dem Unvermögen, es wirklich zu können und andererseits, dem Bedürfnis dennoch sich im Dialekt auszudrücken”. Wenn man vom sozialen Aspekt absieht und nur die Sprachgestalt dieses verachteten Idioms selbst beobachtet, die Matt sehr zutreffend schildert, so ist es sehr weit verbreitet und nicht mehr nur auf Villenviertel, Spitäler oder Regierungsgebäude beschränkt. Bödel-, Pfänder- oder Ganahl-Dütsch avanciert immer mehr als Vorform oder Ersatz für das, was als österreichisches Standarddeutsch gehalten wird. Es leistet immer mehr die Funktion einer Dialektvarianten übergreifenden Umgangssprache in Vorarlberg. Interessant daran ist weniger die Herausbildung einer solchen Verkehrssprache an sich, egal wie durchsetzt sie ist mit eigenen und als Standarddeutsch empfunden fremden Dialektformen, sondern wie durch diese sprachlichen Unterschiede sozialer Druck und Anpassung ausgeübt wird.

 

In den aufgezeichneten und phonetisch transkribierten vierzig Gesprächen quer durch das ganze soziale und geographische Spektrum Vorarlbergs, Reda - Zur Vorarlberger Mundart, finden sich leider auch bezeichnende Beispiele von sozialer und geographischer Arroganz und Verachtung gegenüber den diversen Anderssprechenden in Vorarlberg, deren Unterschiede zum Sprecher für Außenstehende kaum vernehmbar sind. Bestimmte Talschaften und die große Ortschaft Lustenau - kaum 20 km entfernt von der Landeshauptstadt Bregenz - werden immer wieder explizit verspottet, ohne erst von der abwertenden Einschätzung der angrenzenden Schweizern zu sprechen, die innerhalb desselben Dialektkontinuums liegen. Viele der Teilnehmer verweisen direkt und indirekt auch auf die Schwierigkeiten und Bemühungen, Standarddeutsch zu sprechen. Überraschend in diesen formlosen Gesprächen sind auch die sprachlichen Selbsteinschätzungen, die Nicht-Vorarlbergern wahrscheinlich oft unverständlich sind, da die charakteristische Aussprache, Intonation und Satzstellung der Vorarlberger sich nicht so einfach nur durch minimale lexikale Vertauschungen oder Ergänzungen korrigieren lassen. Sprachlicher Zwang, sprachliche Arroganz und das Defizitempfinden sprachlicher Beschränktheit sind oft sehr versteckt und unbewußt, durchziehen aber fast alle Gespräche. Interessant dabei ist, daß der Druck nicht von Nicht-Vorarlbergern auf die Vorarlberger ausgeübt wird, sondern daß es die Vorarlberger selbst sind, die sich in klassischer Über-Ich-Manier das Sprechen selbst gegenseitig schwer machen. Das Mundartsprechen wie auch das Unvermögen, die örtliche Mundart sprechen zu können, schaffen je nach Situation Ausschluß, Demütigung und (Selbst)Respektlosigkeit.

 

Mein Interesse an den verschiedenen lokalen Sprechformen in Vorarlberg ist nicht motiviert von einem Korrekturbedürfnis, sondern wesentlich von einem Reflektieren der sprachlich-sozialen Situation selbst, um Toleranz und Verständnis für sprachliche Eigenheiten und Unterschiede zu fördern. Respekt und Verständnis für die eigene Sprechweise als auch für die Redeart anderer ist in einer Zeit des gegenseitigen Verkehrs unabdinglich. Es geht in Reda - Zur Vorarlberger Mundart also nicht um die sprachpolizeiliche Unterscheidung von “richtigem Dialekt” versus “verfälschtem” Dialekt, obwohl mich z. B. “I war ... gsi” verwundert. Auch möchte ich mich hier eindeutig gegenüber jedem bodenständigen Mundartpflegebewußtsein abgrenzen, das Mundart für reaktionäre Ausgrenzungen instrumentalisiert[8]. Neben der Gefahr eines ausgrenzenden Sprachfaschismus[9] gibt es auch das Übel, Dialekt zum Sprachkitsch verkommen zu lassen, wenn in naiver, wohlwollender Manifestation Mundart “gepflegt”, de facto aber - sprach-ethnographisch gesehen - wirklich zerstört wird, indem man versucht, ihn zu musealisieren, zu fixieren. Ein Verstehen der sozialen und sprachkonformistischen Machtmechanismen sollte in Regionen mit starker sprachlicher Vielfalt ein Bewußtsein bewirken, daß die unterschiedlichen Sprecher in den jeweiligen Situationen in die Lage versetzt, aus den diversen sprachlichen Registern das für sie angemessene sprachliche Medium zu wählen ohne belächelt oder ausgegrenzt zu werden.  Leute abzulehnen und gesellschaftlich auszuschließen, weil sie den lokalen Dialekt nicht sprechen können oder - umgekehrt - sich schwer tun, eine überregionale Umgangssprache problemlos zu sprechen, ist soziale Gewaltausübung.

 

Die soziale und regionale Dialekt- oder Akzentproblematik ist überall in der Welt anzutreffen. Das Einschätzen einer Sprache, eines Dialektes, eines Akzentes oder eines Idioms als “hochwertig” - z. B. Hochdeutsch versus Plattdeutsch oder Schweizerdeutsch - ist nicht sprachlich bedingt, sondern ideologisch, politisch, sozial und sprach-ethnozentrisch. Zuerst muß festgehalten werden, daß alle Sprachen Produkte verschiedener sprachlicher Quellen und somit hybrid sind. Es gibt keine “reine Sprache”. Eine “reine Sprache” ist eine Fiktion, die mit chauvinistischen, rassistischen und diskriminatorischen Weltanschauungsweisen mehr gemeinsam hat als mit sprachlicher Realität. Selbst die in deutschen und österreichischen Universitäten institutionalisierte Sprachforschung muß eine Geschichte der nationalen Ideologie- und Mythenbildung eingestehen. Es liegt in der Natur einer Sprache, sich permanent zu verändern, sich der technologischen, sozialen, ökonomischen, demographischen, sprachlichen und ideologischen Umwelt anzupassen. Interessanterweise gibt es nur im deutsch- und französischsprachigen Raum immer wieder sprachpolizeiliche Bemühungen, die Sprache zu “reinigen”. Sprachregelungen jedoch zeitigen kaum Resultate, sind sinnlos und werden selten befolgt, wenn nicht eine ökonomisch-technologische oder sozial-ideologische Realität dies unterstützt.

 

Die Betonung und Aussprache dessen, was als “vornehm” und was als “gemein” oder gar “vulgär” empfunden wird, ist keinem linguistischen Essentialismus zu verdanken, also der Annahme, daß es ein für alle Zeiten und Völker verbindliches ästhetisches Kriterium der Sprachempfindung gäbe, sondern ein sozialer Effekt. Der Linguist Peter Trudgill führt eine Reihe von bezeichnenden Beispielen an, die zeigen, wie identische Sprechweisen von denselben englischen Wörtern zwischen den diversen Städten komplett widersprechende Wertschätzungen erfahren können. Auch die norwegische Sprachsituation ist voll von Streitigkeiten mit staatlichen Eingriffen, weil dort vor kurzer Zeit aus der Vielzahl von gesprochenen Dialekten eine Nationalsprache (zwei Nationalsprachen) erzeugt wurde(n), deren Kompromißlösungen auch Sprachformen der ländlichen und sozialen Unterschicht zur Standardsprache (“Hochsprache”) avancierte und umgekehrt Teile des (deutsch-dänischgefärbten) Sprachhabitus der städtischen besitzenden Oberschicht disprivilegierte. Die norwegischen Beispiele “Stein” und “Ste”, “Ko” und “Kua” sind reminiszent für die Diphtong- und Monophtongunterschiede, weil sie auch die Vorarlberger Dialekte vom Standarddeutsch unterscheiden[10]. Wie gesagt, sprachlich gesehen gibt es kein an sich “schönes”, “gutes” oder “schlechtes” Sprachsystem, denn alle Sprachvarianten sind strukturiert, komplex und regelgeleitet und dem Sprachgebrauch der Sprecher angepaßt. Einzig allein die sozialen, vorurteilsgeprägten und ideologischen Konnotationen lassen uns glauben, daß der “nicht-lokalisierbare” Standardakzent eines Rundfunksprechers “schöner” oder “reiner” klingt als eine regional “gefärbtes”, mitunter nur örtlich intelligibles Sprechen/Reden[11].

 

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, sind Nationalsprachen ein Produkt politischer Konstellationen, die Veränderungen und Streitbarkeiten unterworfen sind. So gibt es heute z. B. keine serbokroatische Sprache mehr, sondern nur noch eine serbische und eine kroatische Sprache. Der Übergang von Dialekten zu Sprachen und Nationalsprachen und umgekehrt ist immer wieder beobachtbar und ist rein politischer Natur. Das sogenannte Schweizerdeutsch ist eine Art inoffizielle Standardsprache, die sich im Jahrhundert der Nationalstaatengründung aus den diversen lokalen Dialekten herausgebildet hat, um den Unterschied zu den konfliktreichen, immer wieder kriegsführenden deutschsprachigen Ländern um sich herum klar zu unterstreichen.[12] Diese Art sprachliche Landesverteidigung erinnert an den deutschen Philosophen Fichte, der während der napoleonischen Besetzung seines Landes von einer “Inneren Grenze” sprach und dabei wesentlich an sprachliche und ideologische Resistenz und Unabhängigkeit appellierte. Im Schweizerdeutsch finden sich viele Dialektrückübersetzungen und Genetivbildungen, die den diversen lokalen Dialekten fremd sind. Dieser national-politische Aspekt erklärt auch, wieso trotz des vorhandenen Dialektkontinuums zwischen den vorarlberger Ortsdialekten zu den angrenzenden schweizer Dialekten die sehr feinen sprachlichen Unterschied so vehement und mehr oder weniger arrogant-aggressiv kommentiert werden, etwas, das in vielen Grenzsituationen immer wieder beobachtet werden kann.

 

Der Grund, wieso Mundarten nicht einfach in eine Standardsprache aufgehen, hängt mit dem Phänomen der sozialen Vielsprachigkeit zusammen. Die einzelnen Sprecher lernen von Kindheit an, zwischen den diversen Sprachebenen - zumindest zwischen zwei - mehr oder weniger problemlos zu wechseln. Arno Ruoff[13] unterscheidet hier wesentlich zwischen dem Dorfdialekt, der im familiären und im unmittelbaren Umkreis unter Vertrauten gesprochen wird, zwischen einer regionalen Umgangssprache - die in Vorarlberg aus dem Bödele-, Pfänder-, Ganahl-, Arlberg- oder Fremdenverkehrs-Dütsch hervorgeht, ohne jedoch soziale Konnotationen zu kommunizieren, sofern ihr Gebrauch angemessen ist – und einer überregionalen Standardsprache, die man in der Schule zu vermitteln sucht, die im Rundfunk und Fernsehen gesprochen wird und die dem Schrift- oder Hochdeutschen am nächsten kommt. Der sofortige, situationsmotivierte Sprachregisterwechsel schützt den Sprecher und die jeweiligen Dialekte. Eva Schmid hat diesen Sachverhalt treffend angesprochen, indem sie die Mundart der Privatsphäre und der Familie zuordnete. “... also, ich möcht den Dialekt einfach im Privatbereich lassen, und mir in diesen Bereich auch nicht so gern hineinschauen lassen”.  Peter Weibel verweist auf den befreienden und bereichernden Aspekt diese code-switchings, etwas also, das dem Sprechakt eine erweiterte Palette von Wahlmöglichkeiten sichert.

 

Abschließend möchte ich noch hinweisen, daß fast alle mit mir gesprochenen vorarlberger Schriftsteller ihre Protagonisten in mehr oder weniger unbekannten, abstrakten, geographisch und/oder historisch entfernten Schauplätzen auftreten lassen, was das Problem der lokalen Sprachregister symptomatisch umgeht.[14] Sehr interessant und produktiv finde ich jedoch den Umgang von Arno Geiger mit der Schriftsprache, dessen Romanhelden sich in eine abstruse, anachronistische Eloquenz flüchten. Geiger erzählt von seinem Romanhelden, daß er “a goanz oagawillige Rede führt, und wie des kummt, daß d Vorarlberger denn oft amol dazu kummn, zum a biz abseits vum herkömmlicha Sprachgebrauch zum agiera, und i häb denn gset, des muoß wohl dra liega, daß d Vorarlberger als notorische Dialektsprächer sich d Hochsproch neu erfindet und us deam Zwang , sich etwas neu erfinda zu müößa, daß do halt manchmoal was schrägs dabei ußakummt, oder woas oagnes.” (eine ganz eigenwillige Rede führt, und wie es dazu kommt, daß die Vorarlberger oft dazu kommen, etwas abseits vom herkömmlichen Sprachgebrauch zu agieren, und ich habe dann gesagt, daß es wohl daran liegen muß, daß der Vorarlberger als notorischer Dialektsprecher Hochdeutsch für sich neu erfindet und aus dem Zwang, etwas neues erfinden zu müssen, manchmal auch etwas Schräges oder etwas Eigenes herauskommen kann). Der Schriftsteller Arno Geiger ist jemand, der sehr offen über seine Schwierigkeiten im Erlernen und im Umgang mit der Standardsprache spricht und der auch die Sprachschwierigkeiten des vorarlberger Schriftstellers der Goethezeit, Michael Felder, detailliert studiert hat. Geiger beschreitet einen Weg, der vor allem die avantgardistische Literatur Österreichs kennzeichnet. Von Hermanofsky Orlando über die Wiener Gruppe mit H. C. Hartmann, Achleitner, Rühm und Jandl bis hin zum erst verstorbenen Vorarlberger Riccabona sind es vor allem die Abweichungen von der Standardsprache, die produktiv als Sprachmaterial in den Literaturprozeß eingearbeitet wurden.  

 

 

III.

 

Was meine eigene Sprachgeschichte betrifft, so habe ich es vorgezogen, nicht etwa einen Romanhelden zur “sprachlichen Krautschneider”[15] auf den Weg zu schicken, sondern mich selbst in die verschiedenen Windrichtungen zu zerstreuen, um der geschichtlichen, geographisch-alpinen und sprachlichen Situation anders als von mir erwartet zu entsprechen. Sprache reflektiert nicht nur ökonomische, soziale, technologische und politisch-geographische Realitäten, sondern auch psychologisch-kulturelle. Eine andere Sprache zu sprechen, heißt auch eine andere Person zu sein. Eine Sprache nicht mehr zu sprechen, sprechen zu wollen oder sprechen zu dürfen, heißt, von einer psychologisch-kulturellen geschichtlichen Realität Abstand zu nehmen, nehmen zu wollen oder nehmen zu müssen. Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich begonnen, selbständig Italienisch, Spanisch und Französisch zu lernen und die schulfreie Zeit mehr oder weniger vagabundierend im nicht-deutschsprachigen Ausland zu verbringen. Überdies waren meine Erfahrungen mit den Bludenzer und Feldkircher Schulen alles andere als erfreulich, weil wir Schüler in den 70er Jahren noch physisch - Watschen, Ohrfeigen, Kopfnüsse, Stock- und Linealschläge usw. - “diszipliniert” wurden. Das Selbststudium während der Unterrichtsstunden war sicherlich eine effektive Protesthaltung und ist weiterzuempfehlen. Meine jugendliche, individuelle, flucht- und abenteurmotivierte Vielsprachigkeit brachte mir überraschenderweise während meiner Universitätsjahre einen Informationsvorsprung im Literaturzugang ein. Das verfestigte die bis dahin erlernten Fremdsprachen, erweiterte das Wissensspektrum und motivierte mich zur seriösen Beschäftigung mit Russisch. Meine sprachliche Flexibilität erleichterte aber nicht nur die geographische, sondern auch die institutionelle Mobilität: Den Studienorten Barcelona, Innsbruck, Wien, Wales, Paris, Düsseldorf und New York entsprachen die Studien der Romanistik, Philosophie, Geschichte und Kunst. Die Kunst des Überlebens mit bescheidenen Mitteln vertrug sich mit der fast mittellosen Kunst sprachlich-konzeptueller Praktiken, die Lesen und Lernen, Sprechen und Schreiben zum Objekt haben.

 

Erst die Eurozentrismuskritik Edward Saids[16] lehrte mich, daß Sprachenlernen eine koloniale, imperialistische Geschichte hat, in der Repräsentation, Wissen, Macht, Politik und deren Institutionen zentrale Rollen spielen. Dieser ideologiekritische Analysehintergrund wurde mein Vorwand und mein Anreiz, Japanisch als künstlerische Praxis zu lernen. Japan wurde Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre in den USA und in Europa für seine technologische und ökonomische (Vor)Machtstellung gefürchtet und kritisiert. “Die Japaner kaufen die ganze Welt auf”, “Die Japaner fotografieren und kopieren alles”, hieß es im Einklang mit dem massiven strukturellen Rassismus, der es bis dato verhindert hat, eine etwas ausgeglichenere kulturelle Handelsbilanz zwischen Japan und USA/Europa zu schaffen. Eine asiatische Sprache zu lernen wird immer noch als fast “unmöglich” angeschaut, ein Vorurteil, das ich anfangs auch teilte, so daß es mich beim Lernen hemmte.

 

Etwas später folgten 3 Months, 3 Days A Week, 3 Hours A Day - Basic Modern Greek, begleitet von einem weiteren massiven Lernschub Neugriechisch für Ausstellungs- und Theoriezwecke. Griechenland mit seinen Sprachen war das “Imaginäre Andere”, der “Imaginäre Osten” vor allem der Deutschen, die sich im Lernen und Aneignen eifrig hervortaten. Wenn Napoleon auf seinem Ägyptenfeldzug sagen konnte, “C’est nous, les vrais muselmans” (Wir sind die richtigen Muselmänner)[17] so, fühlten und portraitierten sich die studierten und mächtigen Deutschen des 19. Jahrhunderts als die “eigentlichen Griechen”, denen selbst ihre Abstammung strittig gemacht wurden.[18]  Das Verhältnis zu den griechischen Gastarbeitern in Deutschland und Österreich, also zu den für etwa 20 oder 30 Jahre ungastlich behandelten Gäste mit Sprachschwierigkeiten, war durch den ausklingenden altgriechischen Enthusiasmus und verbliebenen Respekt in den Schulen kaum beeinflußt. Die nächste Sprache, die ich innerhalb eines japanischen Ausstellungszusammenhangs zum Lernen anfing, war Koreanisch. Korea wurde in diesem Jahrhundert für viele Jahre ein Aggressionsopfer des japanischen Imperialismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was die zwischenstaatlichen und gesellschaftlichen Beziehungen bis heute belastet. Das Lernen von Koreanisch in einem japanischen Ausstellungszusammenhang erlaubte eine Reihe von interessanten geschichtlich-ironisch-tragischen Bezügen.  Mit dem Lernen von Koreanisch eignete ich mir auch von selbst alle koreanischen Vorurteile gegenüber den Japanern an, deren antipathischen Gegenstücke ich schon mit meinem Japanischstudium zuvor interiorisiert hatte.

 

Es versteht sich von selbst, daß meine mobile Einmann-Universität - ich abstrahiere hier von meinen Lehrern, denen ich Dank aussprechen möchte - beschränkt und dilettantisch bleibt. In keiner Weise wird hier sprachliche Exzellenz angestrebt oder erworben. Dennoch aber versuche ich, über mehrere Jahre hinweg an den jeweiligen Sprachen regelmäßig zu arbeiten, damit ich eine brauchbare Konversations- und Lesekenntnis erreiche. Die eher erlernten Sprachen wurden und werden nun ebenfalls in den Kunstzusammenhang eingebracht und weitergelernt (z. B. Basic Russian, Basic Italian usw.). Meine sprachlichen Bemühungen eröffnen mir auch interessante soziale Beziehungen und beschäftigen mich unabhängig von jeder Ausstellungslogik konstant über Jahre. “Interessenfreies” (Kant), “zweckloses” Lernen außerhalb von Schule und Beruf und ohne offensichtliche Notwendigkeit verändern den Blick auf die Welt, sind aber gesellschaftlich legitimationsbedürftig. Im Zusammenhang mit Kunst läßt sich diese Legitimationsfrage neu und komplexer reformulieren, da die Kunst eine der letzten kritischen Institutionen ist, die mit symbolischen, gewaltlosen, nicht-kriminellen Mitteln die gesellschaftliche Ordnung zu hinterfragen versucht. Sprachenlernen als Kunstpraxis ist ein minimales, symbolisches Intervenieren in einem sozio-kulturellen Feld, das sowohl von ökonomisch-sozialen wie von politisch-ideologisch/weltanschaulichen Problemen bedrängt ist. Vergleichbar der exemplarischen Beziehung, die eine psychoanalytische Konstellation zur Beobachtung und zum Durchsprechen schafft, reagiere ich mit diesem realen Kampf gegen das Vergessen und gegen die individuelle Trägheit als symbolisches Versuchsobjekt, das die unendliche Bandbreite der kulturellen Vorurteile und deren Effekte an sich selbst studieren und erleben kann. Keep moving away from your mother tongue[19] ist ein von mir geschätzter Satz, der weniger wörtlich als vielmehr hyperbolisch für ein toleranteres, polyphoneres gegenseitiges Verständnis stehen sollte. Er entspricht auch meiner mehrsprachigen Lebenssituation, da ich seit 1987 in keinem deutschsprachigen Kontext mehr lebe.

 

Die das Lernen aufzeichnenden Türme von Videokassetten, - z. B. 450 Stunden Basic Korean - lassen sich im traditionell-untraditionellen Sinn einer Skulptur verstehen und dienen gleichzeitig der Disziplin des Studierens selbst, indem die Kamera eine Motivations- und Überwachungsfunktion übernimmt und die Arbeit quantifizierbar wird. Ironischerweise vergesse nicht nur ich die erlernten Sprachen wieder, sondern auch die Videokassetten, da sie sich über Jahrzehnte hinweg entmagnetisieren. Dieser “Informationsverlust” ist im Einglang mit meiner Vorstellung von Repräsentationsverweigerung. Ich versuche, vorwiegend dem unmöglichen und absurden Visualisieren des unendlich langen Lernprozesses selbst meine dokumentarische und visuelle Aufmerksamkeit zu schenken, um Abbildungsverhältnisse zu vermeiden, die in die Tradition der aneignenden, an Exotik orientierten Reise- und Kolonialbilder fallen. Für den Reflexionskontext bin ich am Umstand des Lernens selbst mehr interessiert als an den Möglichkeiten, die sich durch die Sprachbeherrschung im allgemeinen Lebenszusammenhang eröffnen.

 

Die in der KUB-Ausstellung gezeigten Basic Korean Fotografien sind deshalb nicht so sehr als von mir festgehaltene Koreabilder zu sehen, sondern wesentlich als eine Anspielung auf das visuelle Begleitmaterial, wie es sich in “Korea für Anfänger” (Basic Korean) Lernbüchern finden lassen, also einem Genre von pädagogischer Fotografie, die oft einen Hang zu patriotischen Überzeichnung kennzeichnet. Die diese Fotos überlagerten sprachlichen Elemente sind meinen Lehrbüchern entnommen und versuchen durch neue Bild-Wort-Verbindungen heterogene, unerwartete Sinnzusammenhänge zu erschließen. Dieser Logik folgend habe ich bis dato schon eine Reihe von solchen “pädagogischen Sprachfotos” gemacht. Da ich keine verbindlichen Vorarlbergisch-Lehrbücher auffinden konnte, mußte ich für Basic Vorarlbergian auf Sätze der Erinnerung ausweichen: “An huora Siech”, “körige Lüt”[20], “Des isch nur was für d’Wissaschaft”[21], “Des sin als nur Bettlersprüch” usw..

 

Die Basic Japanese-Vitrine enthält Basic Japanese, 50 Videokassetten, 100 Stunden Lernen; Basic Japanese, Arbeiten auf Papier, Schreibblätter; Basic Japanese , Arbeiten auf Papier, Wortkarten; Basic Japanese, Diakarussell mit 50 Dias (pro Lerntag ein Dia vom Studierenden), Basic Japanese, Fuji-san Ni Noboru - Climbing Up Mt. Fuji (3776 m), Wanderstock mit Beiwerk, Fotos; und Basic Japanese, Keitaidenwa No Natsu - Mobile Phone Summer 1998, Diakarussell mit 80 Dias. Die 100 Stunden Japanischlernen wurden diesen Sommer unterbrechungslos während 50 aufeinanderfolgender Tage in Tokyo realisiert und mit einem quasi-symbolischen Aufstieg auf den 3776 Meter hohen Vulkankrater beendet. Sowohl die Video als auch die Dias werden in der Ausstellung nur in ihrer Materialität in der Vitrine gezeigt. Basic Japanese, Nakama Masae-San To Hanasu - Speaking with Mrs. Nakama Masae, Video, ist ein biographisches Gespräch mit der in den 10er Jahren dieses Jahrhunderts geborenen Japanerin, das ich in New York auf Japanisch geführt habe. Die Video-Serie der Basic Feelings, Not good today..., usw. sind Deklinationen durch die von mir gelernten Sprachen hindurch: “English: Today, I feel miserable; German: Heute fühl ich mich scheiße, Vorarlbergian: Hüt goat’s mr hundsmiserabl, French: ... usw. ...”. Die Neonschriftzüge luoga, losna, reda ... und suocha, finda, läsa ...[22] fixieren eine simple Abfolge allgemeiner Dialektwörter in einem teuren Medium, das normalerweise nur der Standardsprache vorbehalten ist. Im Ausstellungszusammenhang des KUBs nehmen diese Wortfolgen auch orientierende und verweisenden Aufgaben an.

 

IV.

 

Schnittstellen oder Interfaces sind Oberflächen, die Kommunikation mit und zwischen informationsfähigen Maschinen erlauben. Die Art wie z. B. Computer und deren Programme Wissen und Information verarbeiten, ist entscheidend für die Entstehung, den Zugang und die Verteilung von Wissen und Information. Bekannt sind die revolutionären Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks auf die Produktion, den Umgang und die Autorität von Wissen. Die Einführung und das Popularisieren von Computern ist sicherlich kein geringerer Paradigmenwechsel. Computerfenster - windows - bieten heute den angemessensten und effektivsten Blick auf die Welt und ihre Verwaltung. Um ein weltweites Imperium von sogenanntem Freihandel und militärischer Vormachtstellung zu bewältigen, bedarf es einer mächtigen Kommunikationsstruktur, die schneller und billiger ist als die Luftpost und Kurzwellensender, die staatlich kontrollierten und strategisch genutzen Kommunikationsmedien der Zeit vor dem Durchbruch der digitalen Kommunikation.Das Internet ist ein internationales Netz von miteinander permanent verbundener Computernetzwerke, das seine Benutzer mit der gesamten vernetzten Welt - und nur dieser - kommunizieren läßt. Dieses dezentralisierte Netzwerk hat wie die meisten Erfindungen seinen Ursprung in der Militäranwendung, von wo aus es sich über die Universitäten hin zur allgemeinen Konsumtion von Waren-, Informations- und Serviceleistungen weitermutiert hat.

 

Das Internet ist heute ein Ort, der die konsumierbare und intelligible in elektronische Daten übersetzbare Welt verdoppelt. Das Zusammentreffen aller elektronischer Medien - Fernsehen, Telephon, Fax, Radio, Teleshopping, sowie jede Datenbank und jedes Informationsservice - im Internet schafft so eine neue Öffentlichkeit, die ich Doppelöffentlichkeit nennen möchte, was nicht zu verwechseln ist mit Gegenöffentlichkeit. Eine demokratische Gegenöffentlichkeit ist ein Korrektiv, das von der dominierenden Öffentlichkeit partizipatif demokratische Defizite einfordert. Protestöffentlichkeiten sind somit integraler Teil von Gegenöffentlichkeiten, die sich überall und mit jedem Medium manifestieren können. Das Internet ist ein Schauplatz, der uns bis zu einem gewissen Maße die demokratischen Würfel neu werfen läßt. Zumindest können wir hier erneut beobachten, wie kritische Chancen der allgemeinen und effektiven Mitsprache und Teilnahme am sozialen Diskurs entstehen, sich nützen und auch leider wieder verspielen, bzw. in passiven Konsum von Großanbieterprodukten konvertieren lassen. 

 

Eine Internetstation befindet sich in der Ausstellung und ermöglichen den Besuchern, meine dialogorientierten Webseiten aufzusuchen, die u. a. auch ein Diskussionsforum zum Thema Ortssprache - Lokal Language enthalten. Diese Diskussion findet seine Unterstützung in einer kleinen Ansammlung von Literatur, die unter dem Werktitel Ortssprachen - Eine tragbare Bibliothek (20 Bücher) auf einer Leseboje, ein “Kunst-Benutzerobjekt”,  zugänglich ist. Während der Ausstellung halte ich mit diesen Büchern auch ein Leseseminar ab, das zur Diskussion zu diesen Themen anregen sollte. Seit Jahren veranstalte ich Leseseminare als integraler und produktiver Teil meiner diskurs- und pädagogikorientierten Kunstpraxis. Die daraus resultierenden Fotografien teilen den Titel Ortssprachen - Eine Leseseminar. Lesen und Schreiben, Sprechen und Diskutieren sind Kulturtechniken, denen ein befreienden und kritischen Potential innewohnt, das unabdingbar ist für eine vitale Zone resistent-toleranter Öffentlichkeit. Town meetings - eine alte Tradition von regelmäßigen Stadt-oder Dorfversammlungen in den USA - sollten nicht nur zu CNN Spektakeln verkommen, sondern können überall auch eine demokratisch partizipative Realität haben. Nicht zuletzt ist auch das maßgebende Kunst- und Kulturverständnis der letzten 200 Jahre eingebettet in eine Öffentlichkeitsdiskussion, die zum Teil erfolgreich erfolgreich politisch gerechtere Institutionen einklagte.

 

Die Bodenobjekte Add Bookmark, Save this Link, Open this Link, Home, Stop Loading, Reload, Copy this Link und Trash haben ihr sprachliches und graphisches Original in der Befehlslandschaft des Internets. Die Übersetzung dieser und anderer Schnittstellenelemente - etwa die Web-Adresse www. ?????????? kub,.at als Bodenschrift - in den aktuellen Raum spielt einerseits mit der modernistischen und post-modernistischen Rhetorik, andererseits verweist sie auf die Logik und Geschichte von Raum und Schnittstellen/Interfaces selbst. Der weiße Boden des Museums darf hier durch diese Elemente als eine Extension eines (Bild)schirms gesehen werden, auf dem gesurft wird, sind Interaktionsbefehle von Programmen mittlerweile überall und in jeder Form denkbar.  Die Papierarbeiten upload 41 %, download 36 %, download 68 % und download 79% folgen demselben Prinzip und stehen für Informationsübertragungsprotokolle, die alle einem instrumentellen Design entsprechen, das seinen Ursprung im Modernismus hat. Teile von mir verschickter E-mails mit Rechtschreibfehlern - ein weitverbreiteter, dem Medium zwischen Brief und Telephongespräch angemessener Schreibeffekt - sind Vorlage für eine Reihe von Textzeichnungen, die als E-mail error: Datum betitelt sind. Das einstündige Video Programming, Alex Galloway, New York, 8/28/1998 zeigt das mit einer unbewegten Kamera gefilmte, von einem Bildschirm bestrahlte Gesicht eines Programmierers bei seiner intensiven Arbeit. Dieses Informationsenvironement sollte das Interesse der Besucher anregen und sie am Internet oder nur in Gedanken zum aktiven Dialogpartner mit mir und anderen Diskussionsteilnehmern zu den von mir projektierten Fragekomplexen machen.

 

New York, August 1998



[1] E.J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780, Cambridge University Press, 1992, p. 38, 60

[2] Es gibt kaum ein Land in Europa, das nicht das Problem der sprachlichen Minderheiten kennt.

[3] see Zeigam Azizov, Russification and the Terrain of “Self-Determination” in: Rainer Ganahl (Ed.) Imported - A Reading Seminar, Semiotext(e), Brooklyn 1998. Azizov ist ein russifizierter Name.

[4] Der Kanton Zürich hat diese neue Sprachpolitik im Frühjahr 1998 legalisiert. Andere Kantone wollen dem folgen, obwohl es noch genügend Widerstand gibt.

[5] Allerdings finde ich es arrogant und übertrieben eifrig, wenn eine kulturelle Institution in Wien für eine in Österreich präsentierte Ausstellung mit öffentlichen Geldern einen Katalog ausschließlich nur noch auf Englisch herausgebt, ohne auch nur ein deutsches Wort zu verwenden.

[6]  Meine Familie steht in keinem Verwandtschaftsverhältnis zur Industriellenfamilie Ganahl.

[7] vgl. Pierre Bourdieux, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Suhrkamp, Frankfurt/M 1982.

[8] Markus Barney weist in Reda - Zur Vorarlberger Mundart sehr eindeutig auf die “Blut- und Bodenmentalität” im Zusammenhang mit dem Alemannischen Dialekt hin. Er erinnert auch an einen “Alemannenerlaß vom damaligen obersten Beamten des Landes, dem Herr Elmar Grabherr”, der Landesstellen nur an Vorarlberger Dialektsprecher verteilen wollte.

[9] siehe Reda - Zur Vorarlberger Mundart mit Friedrich Achleitner

[10]  siehe Peter Trudgill, Sociolinguistics, An Introdcution to Language and Society, Penguin Books, London, 1995, p. 140 ff.

[11]  Man beachte auch die Differenz zwischen den Worten “reden” und “sprechen”.

[12]  siehe Reda - Zur Vorarlberger Mundart mit Dr. Arno Ruoff.

[13] siehe das Gespräch mit Dr. Arno Ruoff.

[14] siehe z. B. Reda mit Ulrike Länge und Arno Geiger: Arno Geiger: “Na, im Grunde isch des, des isch an Großstadtroman, und bekanntlich gibt’s jo bei uns ka Großstädt, [Lachen] na, der, des isch ansich scho ganz ins Allgemeine khoba”; Ulrike Längle: “Jo dia redn halt Hochdeutsch, sozusagen. Und i hob einglich wahnsinnig wenig Dialoge. I hob mehr so erzählende Passagen und wenn I Dialoge hob, mein Gott, wia gseht, der letzte Roman, der hot in München gspielt, des ischt o net grod, und und der nächste spielt sich hauptsächlich in Schwedn ab. Dia redn halt net vorarlbergerisch.”

[15] Arme vorarlberger Jugendliche sind vor der Industrialisierung jahrhundertelang als Krautschneider durch halb Europa gezogen.

[16] siehe, Edward Said, Orientalismus, 1978 und Culture and Imperialism, 1993 in denen vor allem aufgezeigt wird, wie der “Westen” den “Osten” produziert, um sich selbst als Norm zu konstitutieren.

[17] Napoleon Bonapartes Proklamation vom 2. Julie, 1798. siehe Edward Said, Orientalism, Vintage Books, New York, 1979, p. 82

[18] Es gibt Studien, die beweisen wollten, daß die heute in Griechenland lebenden Griechen nicht in direkter Linie mit den Alten Griechen stünden, was dann erklärte, wieso die Sympathie mit den modernen Griechen nur dazu reichte, in Athen 1833 Otto von Bayern, der Bruder des romantischen König Ludwig, zu inthronisieren.

[19]  deutsche Übersetzung: Entferne dich von deiner Muttersprache. Erinnern möchte ich auch an Louis Wolfson, der als schizophrener Schriftsteller in seinem Buch Le schizo et les langues (Der Schizophrene und die Sprachen) den Prozeß der Ablehnung seiner Muttersprache - Amerikanisch - aufzeichnetete, indem er vier verschiedene Fremdsprachen erlernte, um sie dann bis zur Unverständlichkeit zu vermischen.

[20]  Das Foto zeigt meinen Vater mit seiner Frau.

[21] Das Foto entstand 1997 in Bregenz bei einem Filmvortrag zur “Wehrmachtsausstellung” in Wien und wurde abgeschlossen mit einer Diskussion zur umstrittenen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte des größten vorarlberger Energieerzeugers, der sich bis dato weigert, Zahlungen an die noch lebenden Zwangsarbeiter der damaligen Zeit zu leisten.

[22] Ubersetzt: Schauen, hören, reden; Suchen, finden, lesen.